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Die Lehrerin Jenny (Jeanette) Riedemann (1872 - mind. 1927)


Jeanette Riedemann (1872 - mind. 1927) wurde 1872 in Emden als Tochter des promovierten Apothekers Fritz Riedemann geboren.1 Über ihre Mutter ist bislang gar nichts, über sie selbst nur sehr wenig bekannt.


Es ist eine Ironie der Geschichte, wenn Namen von Frauen, die wahrscheinlich lesbisch waren, durch denunzierende Berichte überliefert werden. So ist es auch bei Jeannette Riedemann, die sich selbst mit Vornamen meist nur „Jenny“ nannte.2 Sie soll eine Freundin oder gar Geliebte von Johanna Elberskirchen (1864-1943) gewesen sein.


Als sich nach Elberskirchens Tod ihre letzte Lebensgefährtin Hildegard Moniac (1891-1967), eine ihrer Schwestern sowie eine Nichte 1943/1944 erbittert um das Erbe, inbesondere das Haus in Rüdersdorf bei Berlin stritten, kam es zu seitenweise anwaltlichem, später auch gerichtlichem Schriftverkehr.3 In diesem Zusammenhang gab Elberskirchens Nichte, die promovierte Physikerin Blandine S. (*1904), die in Jena4 lebte, am 6. Dezember 1943 eine Aussage zu Protokoll. Sie war die Tochter der damals bereits verstorbenen Elisabeth (Elisa) Paula Stansfeld (geb. Elberskirchen) (1873- max. 10/1939) und des Kölner Kunstmalers Otto Georg Stansfeld (gest. 1923).


Amouröses Abenteuer mit Johanna Elberskirchen?


Blandine S. sagte unter anderem aus: „ 4. Frau Stansfeld hat Johanna Elberskirchen, als sie erst 17 Jahre alt war, mit einer gewissen Jenny Riedemann in Bonn bei der Ausübung der lesbischen Liebe überrascht. Das hat sie der Tochter Frau Dr. S [...] erzählt.“5


Zumindest posthum machte die Nichte keinen Hehl daraus, dass sie die lesbische Orientierung von Johanna Elberskirchen widerwärtig fand.6 


Jeanette Riedemann war acht Jahre jünger als Elberskirchen. Die zeitlichen Angaben der Nichte über das etwaige amouröse Abenteuer der beiden stimmen wohl kaum. Denn: Elberskirchen war zum fraglichen Zeitpunkt, 1881, siebzehn Jahre alt – während Riedemann gerade mal neun Jahre zählte.7 Diese falsche Angabe dürfte der weit zurückschauenden Perspektive geschuldet sein. Geographisch betrachtet könnten sich die Wege der beiden jungen Frauen an zwei Orten gekreuzt haben: entweder in Rinteln an der Weser, wo Elberskirchen von 1884 bis 1890/91 als Geschäftsbuchhalterin in einer Textilhandlung am Marktplatz arbeitete, oder in Bonn.


Rastlose Kindheit und ‚höhere’ Mädchenschulbildung


Bedingt durch den frühen Tod der Eltern – ihre Mutter verlor Jenny Riedemann im Alter von vier Jahren, ihren Vater mit sechs – musste sie bereits als Kind oftmals umziehen.8 Da es keine näheren Verwandten gab, wurde das Mädchen in der Obhut verschiedener sogenannter Superintendenten, das heißt Verwaltungsangestellter der evangelischen Kirche erzogen. Zunächst war sie bei ihrem Onkel Beckmann in Höxter, wo Jenny bis 1887 auch die sogenannte höhere Mädchenschule besuchte. Im Herbst 1888 kam sie in eine Pension in Markholdendorf zu Frau Superintendent Grosse, da sich ihr Onkel, der lange Witwer war, wiederverheiratet hatte und anscheinend seine neue Ehefrau das angenommene Kind nicht weiter aufnehmen wollte. Jenny Riedemann schreibt darüber: Dann „verlor ich meine Heimat, die mir sein Haus bis dahin gewesen war“. Von Markholdendorf ging sie nach Bremen in ein Pensionat.


Kunstschülerin in Berlin, Familienarbeit in Rinteln und Tätigkeit in Düsseldorf


Als sie mündig ist, zieht sie 1894 nach Berlin, um die königliche Kunstschule zu besuchen. Dort arbeitete sie von Oktober 1894 bis Juni 1895. Allerdings „mußte [ich] dann leider meine Arbeit unterbrechen, da meine Großmuter erkrankte. Um sie zu pflegen war ich mehrere Monate in Rintelen [sic]”.9 Konkret war es von Sommer bis Herbst 1895, als die Berliner Kunstschülerin und spätere Lehrerin Jenny Riedemann in Rinteln lebte. Möglicherweise lernten sich die beiden Frauen auch vor dieser Rintelner Zeit kennen, etwa anlässlich eines Besuches von Jenny bei ihrer Verwandten.


Von Rinteln zog Jenny Riedemann zunächst nach Düsseldorf, wo sie bei einem Professor Körner arbeitete. Danach war sie in Köln „auf eigene Hand kunstgewerblich“ tätig. „[D]och da die Kenntnisse auf diesem Gebiet für Frauen nur schwer zu verwerten sind, entschloss ich mich die Examen für die technischen Fächer zu machen, für die ich mancherlei Vorkenntnisse besaß. Zu diesem Zweck trat ich im April 1897 in einen Kursus in Düsseldorf ein und bestand im Juli [1898] an der dortigen Luisenschule das Handarbeitsexamen“, schrieb sie in einem Lebenslauf über ihre weitere Ausbildung.


Nach dem Tod ihrer Großmutter, die vermutlich auch die Erbeverwalterin gewesen sein dürfte, war sie im August 1898 „völlig heimatlos geworden“. Schließlich wurde ihr von ihrem Vetter Beckmann angeboten, in seinem Haus in Burbach zu wohnen, südlich von Siegen in Westfalen gelegen.


Zeichenlehrerin in Burbach, Turnexamen in Bonn


Dieses Angebot hat sie wohl auch angenommen. Jedenfalls gab sie an der dortigen Schule Zeichenunterricht. Ob sie es in Burbach bei ihrem Vetter schließlich nicht mehr ausgehalten hat, Johanna Elberskirchen oder andere Gründe sie nach Bonn verschlugen, bleibt fraglich. Am 28. September 1898 kam sie (bürokratischen Angaben zufolge) jedenfalls von Düsseldorf (!), lebte von September bis Mitte November 1898 in der Bonner Kreuzstraße 1a und zog dann am 15. November 1898 nach Burbach.10 Die Auslassung dieser Zeit in ihrem Lebenslauf ist vielleicht strategischen Überlegungen geschuldet, um zu suggerieren, dass sie kontinuierlich unter der Obhut ihres Verwandten in Burbach lebte, was besser angesehen war für eine Frau ihres Alters, als alleine zu wohnen. Jedenfalls schrieb Jenny Riedemann in ihrem Lebenslauf, sie hätte von August 1899 bis November 1899 von Burbach aus ein Turnexamen in Bonn gemacht.11 


Ob sich die beiden Frauen in Bonn zum ersten Mal sahen? In dieser Zeit hetzte Johanna Elberskirchen – getrieben vom Ehemann ihrer Freundin Anna Eysoldt und den Strafverfolgungsbehörden – zwischen der Schweiz und Deutschland hin und her.12 Elberskirchen hielt sich im Mai/Juni 1898, im Juni 1899, im Frühling 1900 sowie zu Jahresbeginn und im Juni 1901 (möglicherweise nachdem ihre Mutter gestorben war)13 in Deutschland, u.a. in Frankfurt am Main auf, was auch für damalige Verhältnisse nicht so weit von Bonn entfernt war. Ob Johanna Elberskirchen und Jenny Riedemann 1899 einen aufregenden Bonner Sommer verlebt haben?


Denkbar wäre beispielweise, dass die beiden sich in Bonn kennenlernten, während Riedemann im Delikatessengeschäft der Eltern einkaufte oder in der Modehandlung der Schwester Ida und sich dort zufällig auch Johanna aufhielt. Vielleicht begegneten sie sich aber auch in einem ganzen anderen, etwa frauenbewegten Zusammenhang.


Von Bonn zog Jenny Riedemann wieder (oder zumindest offiziell) nach Burbach, wo sie zwischenzeitlich an der dortigen Rektoratsschule für den Zeichenunterricht verantwortlich war.14 



(Oberschul-)Lehrerin in Köln und Dortmund von 1900 bis 1927


Seit dem Frühjahr 1900 arbeitete Jenny Riedemann an der höheren Mädchenschule von „Fräulein” Wegner in Köln, wo sie in Handarbeiten, Turnen und Zeichnen in allen Klassen und auf allen Stufen unterrichtete. Für die erste Klasse gab sie zudem angesehenen „Kunstgeschichtsunterricht“.15 


Jenny Riedemann wusste – sogar als Quereinsteigerin – ihre Arbeits- und Aufstiegschancen zu nutzen. Sie erweiterte ihr Repertoire, und nach eineinhalb Jahren gelang es ihr, die Fächer in allen Stufen zu unterrichten.16 Zumindest im November 1901 wohnte sie in Köln in der Luchnerstraße 4.17



Von 1902 bis 1927 war Jenny Riedemann in Dortmund als Lehrerin, spätestens seit 1927 als Oberschullehrerin am Städischen Goethe-Lyzeum nebst deutscher Oberschule angestellt.18 Die Prüfung zur Oberschullehrerin war 1894 eingeführt worden und setzte eine fünfjährige Lehrtätigkeit und zwei- bis dreijährige Fortbildungskurse voraus.19


Im Rahmen der Reform des Mädchenschulwesens in Preußen erhielt auch die damalige Städtische höhere Mädchenschule die Anerkennung zur höheren Schule, die den jungen Frauen den Zugang zur Hochschule ermöglichte. Vom Schuljahr 1911/12 hieß die Schule Lyzeum und das 1890 als sogenannte Selecta eingerichtete Lehrerinnenseminar Oberlyzeum, in dessen Rahmen drei reguläre Klassen sowie anschließend eine unterrichtspraktische Klasse absolviert wurde.


Die Oberlehrerin Jenny Riedemann hat bis Ende der zwanziger Jahre in diesen höheren Klassen die Mädchen und jungen Frauen auf die Lehrerinnenprüfung vorbereitet. Dann verliert sich ihre Spur. Da 1924 die letzte Lehramtsprüfung stattfand, die danach an einer eigens dafür eingerichteten Lehrerinnenbildungsanstalt abgenommen wurde, verließ Riedemann vermutlich die Schule, um an einem anderen Ort eine Anstellung zu finden, die ihrer Qualifikation mehr entsprach. Jenny Riedemann hat es offenkundig verstanden, mit ihrer vergleichsweise privilegierten Startposition sehr gut umzugehen: Das Erbe ihres Vaters hatte ihr eine höhere Schulbildung wie auch eine vergleichsweise fundierte Ausbildung ermöglicht; als promovierter Apotheker verfügte er wahrscheinlich über einige finanzielle Ressourcen.


Ob sich die Wege von Jenny Riedemann und Johanna Elberskirchen auch nach ihren Jugendjahren noch kreuzten bleibt ebenso unklar, wie der weitere Lebensweg der gebürtigen Emdenerin.




Christiane Leidinger (Berlin 2009)



Zitiervorschlag:
Leidinger, Christiane: Die Lehrerin Jenny (Jeanette) Riedemann (1872 - mind. 1927) [online]. Berlin 2009. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_jennyr_d.html> [cited DATE].


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1 Vgl. Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 6. Vgl. Mail des Stadtarchivs Emden vom 17.4.2003. Vgl. Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 6. Dieser Text fasst die bisherigen Erkenntnisse über das Leben von Jenny Riedemann zusammen und beruht auf den Recherchen im Rahmen der Biographie von Johanna Elberskirchen, vgl. dazu Leidinger, Christiane: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elbe.


2 Vgl. Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 6.


3 Vgl. dazu ausführlich Leidinger, Christiane: Keine Tochter.


4 Nachlaß-Sache Johanna Elberskirchen, Akte 5 VI 109/43, Bl. 35 (Vorder- und Rückseite), Archiv des Amtsgerichts Fürstenwalde.


5 Nachlaß-Sache Johanna Elberskirchen, Akte 5 VI 109/43, Bl. 35. Aus datenschutzrechtlichen Gründen kann der Name nicht ausgeschrieben werden.


6 Selbst wenn in die Überlegungen mit einfließt, es könnte sich um ein höchst problematisches (Gewalt-)Verhältnis zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mädchen gehandelt haben, ist es aufgrund des denunziatorischen Charakters des Berichts über diese Verbindung sehr unwahrscheinlich, dass dies nicht mit in die Denuntiation miteingeflossen wäre, um die ‚Ungeheuerlichkeit’ des lesbischen Verhältnisses noch stärker zu betonen.


7 Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 6.


8 Ebd., Bl. 2-4; 6.


9 Vgl. mail des Stadtarchivs Bonn vom 27.1.2003. Die Kreuzstraße existiert heute leider nicht mehr, denn sie ging im sogenannten Durchbruch 1971 in einem Bonner Platz auf. Vermutlich wurden alle Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Diese Informationen recherchierte dankenswerterweise Ingeborg Boxhammer.


10 Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 4.


11 Vgl. dazu Leidinger, Christiane: Keine Tochter.


12 Ihre Mutter, Julia Elberskirchen, starb am 7. April 1901. Vg. Eintrag in der Meldekarte (Stadtarchiv Bonn).


13 Vgl. Mail des Stadtarchivs Bonn vom 27.1.2003. In der Personalakte von Jenny Riedemann liegt ein Lebenslauf aus dem Jahr 1901 bei, in dem die Bonner Zeit im Jahr 1899 angesiedelt wird. Vgl. Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 3f.


14 Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 4f.


15 Für diesen und andere Hinweise zum Lehrerinnenberuf dieser Zeit danke ich herzlich Katja Koblitz.


16 Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Personalakte Schulkollegium R 57 (Riedemann), Bl. 3.


17 Ebd., Bl. 6-8; 10-12. Bei der 1867 als erste Dortmunder „höheren Töchter“-Schule handelt es sich um das heutige Goethe-Gymnasium in Dortmund. Den Namen Städisches Goethe-Lyzeum nebst deutscher Oberschule trug die Schule ab 1918, vgl. Goethe-Gymnasium. Online: https://www.home.t-online.de/home/goethe-gymnasium-dortmund.koll/gg130.htm (download 2/2004).


18 Vgl. 100 Jahre Frauenstudium. Frauen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung. Berlin: Edition Ebersbach 1996, 18f.


19Zur Schulgeschichte vgl. Goethe-Gymnasium.