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Vera Lachmann (1904-1985)


Vera Lachmann © Beate Planskoy


Schicksalsjahr 1939: Vera Lachmann, von den Nationalsozialisten als Jüdin verfolgt, muss Deutschland verlassen, um ihr Leben zu retten. Im Fluchtgepäck: die Sprache. Eine Lyrikerin ist wiederzuentdecken, zu deren Lieblingsgedichten die Lieder Sapphos gehören.


Vera Lachmann kommt am 23. Juni 1904 in Berlin zur Welt und wächst in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Die Mutter Caroline stammt aus Prag. Ihr Vater ist der angesehene Architekt Louis Lachmann; er stirbt, als sie fünf Jahre alt ist. In den zwanziger Jahren studiert die junge Frau in Basel und Berlin Germanistik und Alte Sprachen. 1931 promoviert sie über eine isländische Saga und kann im Februar 1933 noch das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen ablegen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten verhindert jedoch sowohl die Habilitation und damit eine Hochschullaufbahn als auch den Weg in den Schuldienst. Auch kann sie ihre literarischen Texte nicht mehr veröffentlichen, und ein schon für die Aufführung vorgesehenes Schauspiel wird abgesetzt. Sie ist plötzlich eine Frau ohne Zukunft.


Zum Lebensinhalt für die nächsten Jahre wird eine kleine Privatschule, die Vera Lachmann im April 1933 im Bezirk Grunewald gründet, zusammen mit ihrer ehemaligen Lehrerin und mütterlichen Freundin Helene Herrmann, die ihr einst die griechische Geisteswelt und die deutsche Klassik nahe gebracht hatte. Nun unterrichten sie gemeinsam 65 jüdische Schülerinnen und Schüler, die zunehmend aus den öffentlichen Schulen vertrieben werden. "Sie hatte großen Charme und viel Humor", erinnert sich Lachmanns Nichte Beate Planskoy, die damals auch die Schule besuchte.“ Doch wenn sie irgendetwas erreichen wollte, konnte sie vollkommen rücksichtslos wie eine Lokomotive auf ihr Ziel zusteuern, und mit dieser Energie hat sie oft fast Unmögliches erreicht.”


Die Schule wird Ende 1938 von den Nazis geschlossen. Anschließend hilft Vera Lachmann mit, elternlose jüdische Kinder ins sichere Ausland zu bringen. Die Jagd nach Ein- und Ausreisevisum, nach Schiffspassagen und anderen erforderlichen Papieren wird zum Wettlauf gegen die Zeit. Je dramatischer die Lage für die Flüchtlinge wird, umso restriktiver handhaben die meisten Länder ihre Asylpraxis. Erst am 17. November 1939 verlässt die 35jährige selbst Deutschland, was nach Beginn des Zweiten Weltkrieges nur noch wenigen gelingt.


In einem Gespräch mit Gabriele Kreis, Autorin des Buches Frauen im Exil, erzählt Vera Lachmann 1980: "Glücklicherweise hatte ich eine Freundin, die mir ein Visum beschaffen konnte, als die Quoten längst ausgeschöpft waren, und so bin ich 1939 über Schweden in die USA gekommen, mit der 'Gripsholm' von Göteborg. Plötzlich war ich also ganz auf mich selbst gestellt, und das hatte sogar seine guten Seiten. Das Exil war eine Wiedergeburt für mich. Es gab nichts mehr aus dem vorherigen Leben, was einen belastete. Es zählte nur noch, was man konnte und wusste... So bin ich durch das durchgegangen, bis ich schließlich wieder in meinem eigenen Fach gelandet bin."


Was Vera Lachmann hier lapidar-lakonisch beschreibt, war ein langer und mühsamer Weg. Nach ihrer Ankunft in den USA, völlig mittellos und des Englischen unkundig, jobbt sie als Putzfrau und Sekretärin. Zwar unterrichtet sie schon ab 1940 Deutsch, Griechisch und Latein an verschiedenen Colleges und Universitäten und lehrt seit 1949 als Fakultätsmitglied am Brooklyn College klassische Philologie. Doch erst 1972 - im Alter von 68 Jahren - erhält sie eine Professur in ihrem Fach an der New Yorker Universität.


Neben dem Broterwerb tritt die literarische Arbeit - ihr "eigentliches Leben" - wieder in den Vordergrund. Ihre Gedichte erscheinen in verschiedenen deutschsprachigen Zeitschriften, vor allem im New Yorker Emigrantenblatt Aufbau. Der Amsterdamer Verlag Castrum Peregrini veröffentlicht schließlich drei Gedichtbände mit amerikanischer Übersetzung (Golden tanzt das Licht im Glas, 1969; Namen werden Inseln, 1975; Halmdiamanten, 1982). Sie alle hat Vera Lachmann ihrer Lebensgefährtin Tui St. George Tucker gewidmet, einer Komponistin und Blockflötenvirtuosin, die auch einige der Gedichte vertont hat. 1924 in Kalifornien geboren, wurde sie von ihrer Mutter, einer gebürtigen Neuseeländerin, nach einem dortigen Vogel genannt.


Die beiden Frauen lernten sich um 1950 kennen und lebten bis zum Tod Vera Lachmanns am 18. Januar 1985 in Greenwich Village zusammen. Dritte im Bunde war lange Zeit Grete Sultan, eine aus Deutschland emigrierte Pianistin. Als ich 1987 während eines New York-Aufenthaltes Tui St. George Tucker aufsuchen wollte, um mehr über ihr gemeinsames Leben in Erfahrung zu bringen, suchte ich ihr Namensschild vergeblich an der Tür. Vor einigen Monaten erst erfuhr ich von Moritz von Bredow, der eine Biographie über Grete Sultan schreibt, dass Tui nach Veras Tod nach Catawba/Blowing Rock verzogen war – an jenen Ort, wo Vera Lachmann viele Jahre lang in den Sommermonaten ein Ferienlager für fünf- bis zwölfjährige Jungen abhielt. Unterstützt wurde sie von Grete Sultan und von ihrer Lebensgefährtin, die sich um die musikalische Ausbildung der Jungen kümmerten. Am 21. April 2004 ist Tui St. George Tucker, die ihr größtes Werk, ein Requiem, erst im letzten Jahr beendet hat, in Catawba in den Bergen von North Carolina verstorben.


Vera Lachmanns von der Exilerfahrung geprägten Gedichte waren es, die mich neugierig auf diese Frau gemacht haben. Ihre Landschafts- und Naturlyrik ist häufig ein Anlass zur Selbstbetrachtung und ein Versuch, die durch Verfolgung und den Verlust geliebter Menschen entstandenen Wunden zu heilen. Zahlreiche Widmungsgedichte zeugen von engen Frauenfreundschaften: in vielen Gedichten hat Vera Lachmann Frauen ein literarisches Denkmal gesetzt, etwa der Deutsch-Amerikanerin Erika Weigand, mit der sie eine Liebesbeziehung verband. Die 1917 geborene Erika Weigand hatte von 1933 bis 1937 in Deutschland gelebt; sie war es, die Lachmann 1939 die lebensrettende Bürgschaft und einen Lehrvertrag an einem College besorgte, was der Emigrantin zu einem Visum für die USA verhalf. 1946 stürzte sie sich von einem Hochhaus in den Tod.


ERIKAS AUGEN
Gedächtnis deiner Augen, Erika,
Macht heut das Herz mir schnell.
Sie strahlten manchmal, waren manchmal grau
Und sahen öfters hell.


Mit Kinderstaunen merkten sie was war
Und blickten doch uralt,
Bläuliches Rund mit abgrunddunklem Mond,
Betrunken von Gestalt.


Sie waren Zwillingsrätsel, andachtgroß,
Voll Lieberwidern,
Oft tieferschrocken, eisesgrün und fern,
Endlich geschützt für immer in den Lidern.


(aus: Namen werden Inseln)


Die kultur- und geistesgeschichtlichen Werte der Antike sind ein häufig wiederkehrendes Motiv in Vera Lachmanns Gedichten. Die Mythologie des antiken Griechenlands enthielt eine das Trauma der Flucht lindernde Kraft. Zu ihren Lieblingsgedichten gehörten die Lieder Sapphos an ihre Tochter. Im folgenden Gedicht erweist Vera Lachmann der griechischen Dichterin ihre Reverenz.


LESBOS
Nicht das eigensinnige Horn
Deines erhabensten Berges
Noch das opalene Abendgewässer
Deiner umarmten Bucht
Noch auch die hundertfältige Rundung
An Hängen, mauergestützt,
Deines silbergrünen Olivenreichtums
Macht, Insel, dich so begehrt
Wie das Versteckspiel
Deiner Ungebändigten.
Da bebt sie eine Weile
In der winzigen Krone des Alpenveilchens,
Zwischen Felsgebröckel.
Doch eh noch gepflückt
Flieht sie in gebirgigen Windstoß,
Wirft sich, eine Leidende,
In nachglühenden Seesand,
Schlägt den Äther
Mit schlanken Kranichflügeln
Einem blaß-orangenen
Großmond entgegen.


(aus: Golden tanzt das Licht im Glas)



© Claudia Schoppmann (Berlin 2005)


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Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Vera Lachmann (1904 -1985) [online]. Berlin 2005. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_lachmann_d.html> [cited DATE].