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Die Schriftstellerin Christa Reinig (1926-2008)


Ein Wort bewegt dies Ahornblatt
bis in die Wurzel meines Sterns
zu wünschen wag ich nicht
noch Sprache einzubaun
in menschliche Belange.


(aus:Schwalbe von Olevano, 1969)



Am 30. September ist die Schriftstellerin Christa Reinig im Alter von 82 Jahren in München gestorben. Fünfzig Jahre hat sie Prosa, Lyrik und Hörspiele publiziert. Von Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre verband sie ihre messerscharfe Satire und ihren schwarzen Humor thematisch mit dem Kampf der Frauenbewegung. Mit den Romanen „Entmannung“ (1976) und „Die Frau im Brunnen“ (1984) sowie den Essays „Der Wolf und die Witwen“ (1980) hat sie feministische Erkenntnisse zu radikalen literarischen Aussagen zugespitzt mit immer wieder überraschenden Metaphern und Pointen. Einige Gedichte zierten in den Achtzigern auch Hauswände in Zürich wie z. B.:


In diesem augenblick
sitzt eine frau irgendwo
denkt sich dinge aus
die wir gebrauchen können


(aus: Müssiggang ist aller Liebe Anfang, 1980)


Als ich als Studentin Christa Reinig 1982 in München für meine Lizentiatsarbeit interviewte, war ich gleichermaßen fasziniert von ihrer klugen Präsenz wie ihrer liebevollen Gastfreundschaft. Sie stimmte auch einem Interview für die Zeitschrift Lesbenfront bereitwillig zu.


In einem Gespräch mit der Literaturprofessorin Marie Luise Gansberg zog Christa Reinig als 60-jährige Schriftstellerin Bilanz über ihr Leben und Werk: „Aber ich bin lesbische Schriftstellerin, so gut wie ich weibliche Schriftstellerin bin, das ist eine Entwicklung.“ Und: „Auch die Umwelt, auf die ich einwirken wollte und die mich geformt hat, verändert sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt so, als hätte ich von Zeit zu Zeit den Planeten gewechselt. Und vor allem: es änderten sich meine literarischen Kriterien.“ (1986)


Die Stationen ihres Lebens glichen tatsächlich Planetenwechseln: Im Osten Berlins als Tochter der Putzfrau Wilhelmine Reinig in der Weimarer Republik geboren, erlebte Reinig als Kind die Machtübernahme der Nazis und als 19-jährige die Zerschlagung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Nach dem Krieg arbeitete sie zunächst als Trümmerfrau und Fabrikarbeiterin, bis sie in den 50er Jahren in der DDR das Abitur nachholte, Kunstgeschichte studierte und als Assistentin am Märkischen Museum arbeitete. Zusammen mit ihrer Mutter lebte sie in Ost-Berlin, engagierte sich jedoch in einer „Gruppe Zukunftsachlicher Dichter“ in West-Berlin. Nach dem Tod der Mutter nutzte Reinig den Empfang des Bremer Literaturpreises 1963 dazu, im Westen zu bleiben. Danach lebte sie in München, später auch ein Jahr in der Villa Massimo in Rom, wo sie gerne geblieben wäre.


In Reinigs ersten publizierten Erzählungen von 1949/51 erschien kühn ein Thema, das sie erst ein Vierteljahrhundert später wieder aufgriff, nämlich das Arbeiten und Leben von Frauen ohne Männer. Doch dann standen während 25 Jahren Männer im Zentrum ihrer Texte. Erst dank und mit der Frauenbewegung wurde es Christa Reinig möglich, Frauen – auch Lesben – in ihrer Literatur zu darzustellen: Nachdem sie durch einen Treppensturz zur schwer behinderten Frührentnerin geworden war, schrieb Reinig den autobiografischen Roman "Die himmlische und die irdische Geometrie" (1975). Darin legte sie die männlichen Masken ab und entwickelte eine weibliche Erzählposition, aus der sie souverän über den Stoff verfügte und große Bögen in Raum und Zeit spannte. Ein Thema blieb jedoch auch hier ausgespart: die Liebe. Christa Reinig hatte für ihre lesbische Erfahrung noch keine Sprache gefunden.


Im Roman "Entmannung" (1976) entlarvte Reinig dann mittels Satire die patriarchalische Ideologie im Bewusstsein von Frauen und Männern. Drei Jahre später wagte sie – im Gedichtzyklus "Müssiggang ist aller Liebe Anfang" (1979) – lesbische Liebe in Form eines lyrischen Tagebuchs zum Ausdruck bringen. Von Mitte 70er bis Mitte 80er Jahre, als Reinig sich zur Frauenbewegung zählte, war sie literarisch am produktivsten: drei Romane, zwei Erzählbände, ein Lyrikband sowie zahlreiche Artikel und Gedichte in feministischen Zeitschriften wurden publiziert. Vom Literaturbetrieb wurde Reinig jedoch als Folge ihrer feministischen Positionsbestimmung marginalisiert, ihre Texte weniger rezensiert oder mit Preisen ausgezeichnet. Christa Reinig zog sich Ende der 80er Jahre aus der Frauenbewegung zurück.


Danach publizierte sie noch weitere Erzählbände mit unterschiedlichen Inhalten. Nun erhielt sie drei Literaturpreise, welche ihr für ihre besten Werke versagt geblieben sind. Trotz ihres Rückzugs aus dem feministisch-lesbischen Engagement: Mit Christa Reinig ist eine große lesbische Schriftstellerin gestorben.




Madeleine Marti (Zürich 20.10.2008)


Zitiervorschlag:
Marti, Madeleine: Die Schriftstellerin Christa Reinig (1926 - 2008) [online]. Zürich 2008. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_reinig_d.html> [cited DATE].