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Charlotte Wolff (1897-1986) – "Love between Women"


Cover der UKZ, aus: Dennert, Leidinger, Rauchut
Cover der UKZ. Lesbenmagazin aus
Berlin mit Foto von Charlotte Wolff,
Archiv Rainer Pabst-Wolter. Scan aus:
Dennert/Leidinger/Rauchut (Hg.):
In Bewegung bleiben. Berlin: Querverlag 2007.

Charlotte Wolff – Ärztin und Psychiaterin – musste 1933 als Jüdin Deutschland verlassen, floh nach Paris, wo sie die wissenschaftliche Handlesemethode entwickelte und praktizierte, um schließlich 1936 nach England zu emigrieren. Dort hat sie als erste systematisch zur Homosexualität von Frauen und zur Bisexualität geforscht.


Ich bin Charlotte Wolff 1979 während der Sommer-Universität für Frauen an der Freien Universität (FU) in Berlin begegnet. Ihre Einladung von deutschen Feministinnen und die Begegnung mit ihnen hat sie nachhaltig beeindruckt und ihr in der Stadt, aus der sie vertrieben wurde, „ein neues Leben gegeben”. Das schreibt sie in ihrer Autobiografie*, die mich sehr berührt hat und aus der ich im Folgenden erzähle. 


Kindheit und Jugend


Charlotte Wolff wird 1897 in Riesenburg, einer westpreußischen Provinzstadt in der Nähe von Danzig, geboren. Sie wächst als zweites Kind jüdischer Eltern in einem behüteten bürgerlichen Milieu auf. Der Vater ist Getreidehändler. Das soziale Klima des Ortes und der deutschen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann generell als tolerant gelten, auch Juden und Jüdinnen gegenüber. „Eine jüdische Familie war damals ein Musterbild eines dicht gewebten Netzes, eine Gemeinschaft, die zusammengehalten wurde durch gegenseitige Zuneigung und Hilfe” (15). Das hatte allerdings auch zur Folge, dass diejenigen, die nicht-jüdisch waren, davon tendenziell ausgeschlossen gewesen sind. Charlotte Wolffs. Kindheit war davon geprägt. In der Schule fühlte sie sich besonders zu jüdischen Mädchen hingezogen, beneidete allerdings auch ihre christlichen Mitschülerinnen, die zum Beispiel an „Jesus den Retter der Welt“ glauben durften. Andererseits feierten die jüdischen MitbürgerInnen ebenso wie die christlichen NachbarInnen das Weihnachtsfest nach typisch deutscher Art mit Tannenbaum und Gansessen. Ebenso wurde „Stille Nacht“ gesungen.



Vater und Mutter waren voller Fürsorglichkeit für ihre beiden Töchter. Kritisch bemerkt Charlotte Wolff zu ihrer Erziehung, dass sie von den Eltern zu sehr verwöhnt, beschützt wurde und zu wenig Disziplin herrschte, um im Leben auch mit Enttäuschungen gut fertig werden zu können. Andererseits hat diese liebevolle Zuwendung ein grundlegendes Vertrauen in sich selbst und andere bewirkt, ein unschätzbares Gut für die späteren Herausforderungen in ihrem Leben.


Ab ihrem neunten Lebensjahr besucht Charlotte Wolff die Schule in Danzig, der besseren Schulbildung wegen. Obwohl die zeitweilige Trennung vom Elternhaus und Riesenburg sie heimwehkrank macht, ist sie eine herausragende Schülerin. Während ihrer gesamten Schulzeit verliebt sie sich immer wieder in Mitschülerinnen und schwärmt auch für Lehrerinnen. Bemerkenswert ist, dass ihre Eltern offensichtlich ihre gleichgeschlechtlichen erotischen Gefühle akzeptieren und ihr daraus keine Probleme erwachsen. Im Gegenteil, sie verbringt Zeiten häufigen Tagträumens an die geliebte Person und schreibt, schon mit 12 Jahren, Gedichte.


Mit etwa 16 Jahren ereignet sich etwas Wundersames in ihrem Leben. Sie macht eine außerordentlich intensive Glückserfahrung spiritueller Art, die wohl als Initiation des Erwachsenwerdens zu begreifen ist. Der Titel ihrer beeindruckenden Autobiographie ist diesem Ereignis zu verdanken:


„Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit“.


Leben – Lieben – Arbeiten als Studentin


Ab 1920 beginnt Charlotte Wolff ihr Studium zunächst in Freiburg. Aus Vernunftgründen schreibt sie sich bei der medizinischen Fakultät ein, obwohl sie lieber Philosophie studieren würde. Dennoch besucht sie mit großem Engagement und Interesse die Vorlesungen von Edmund Husserl (1859-1938), dem Gründungsvater der Phänomenologie und Martin Heidegger (1889-1976), seinem Assistenten. Von Husserl nimmt sie auf ihren Lebensweg mit: „Verlassen Sie sich nicht auf Autoritäten, betrachten Sie alles auf neue Art und Weise mit den eigenen Augen, mit Ihrem Verstand und Ihrer eigenen Intuition. Legen Sie die Scheuklappen des Lernens aus zweiter Hand ab” (68).


Privat lebt sie in einer freundschaftlichen, geschlechtergemischten Wohngemeinschaft zu viert. Dankbar für die Zeit verlässt sie Freiburg, um nach zwei Semestern nach Königsberg zu wechseln. Ihre frühe Liebe Ida, die aus Schweden nach Königsberg zurückkehrte, ist Anlass für diesen Wechsel. Obwohl von dieser Liebe wieder sehr eingenommen, absolviert sie ihr Physikum mit „Fliegen und Fahnen” (71) und studiert weiterhin die Philosophen Kant (Königsberg), Schopenhauer (Danzig) und den jüdischen Spinoza (Amsterdam). Durch die Freundin Ida kommt sie mit dem Zionismus in Kontakt. Idealismus und Sendungsbewusstsein dieser zionistisch orientierten Menschen beeindrucken sie, aber letztlich bleibt für sie der Zionismus eine romantische Idee, obwohl die ZionstInnen ganz real Gleichberechtigung von Frau und Mann praktizieren und als revolutionäre WegbereiterInnen eines Staates Israels gelten könnten.


Literatur und Poesie bestimmen gleichermaßen ihr Leben. Seit klar wird, dass Ida heiraten und Kinder bekommen will, schreibt Charlotte Wolff Gedichte, Liebesgedichte für Frauen; wieder mal um der Wirklichkeit zu entfliehen, ein Muster, das ihr vertraut ist. „Mein Gefühl, dass Liebe eine Sache ist, die sich nur zwischen Frauen abspielt, entsprach meiner festen Überzeugung, solange ich mich erinnern kann” (75). Sie hat zwar zu einer Vielzahl von Männern gute, aber eher platonische Beziehungen gehabt, die zuweilen auch stark emotional gefärbt waren. Die Kategorisierungen in lesbisch – hetero – homosexuell lehnt sie ab und, wie sie in ihren späteren sexologischen Forschungen nachweisen kann, sie stellen sich auch als unsinnig und falsch heraus.


Nach zwei Semestern verlässt sie die „grimmige Stadt in Ostpreußen” (71) und wendet sich wieder einer der renommiertesten Universitäten für die Medizin zu: Tübingen. Sie hört u.a. Ernst Kretschmer (1888-1964), der mit: „Körperbau und Charakter“ als der Pionier der psychosomatischen Typenlehre gilt. Privat genießt sie mit zwei Kommilitonen eine „natürliche“ Kameradschaft zwischen Mann und Frau. Die heitere Gelassenheit und Freiheit, die sie während der Zeit in Tübingen erfährt, wird am Ende der zwei Semester durch ein unangenehmes, sie diskriminierendes Erlebnis (als Jüdin?) getrübt. Der ohnehin gefasste Entschluss, die Universität zu wechseln, gewinnt dadurch an Festigkeit.


Berlin sollte Examensstadt werden. Die Weimarer Republik machte diese Stadt zum Anziehungs- und Mittelpunkt für progressives Leben: in künstlerischer, politischer und sexueller Hinsicht. In dieser Zeit lernt Charlotte Wolff  das jüdische Ehepaar Walter und Dora Benjamin kennen, die in Berlin-Grunewald wohnten, allerdings weniger einen bourgeoisen Lebensstil pflegen konnten, sondern eher in finanziellen Sorgen lebten. Der Gewinn dieser sich anbahnenden Freundschaft lag für Charlotte Wolff in der intellektuellen Bereicherung. Besonders mit Walter Benjamin (1892-1940) – einer der klügsten Köpfe des 20. Jahrhunderts – verband sie der Austausch über Kunst und Literatur, aber auch privat bekannten sie sich gegenseitig ihre Abenteuer und Affären. Als die Inflation ihre finanziellen Mittel den Abschluss ihres Studiums infrage stellten, verhalfen Dora und Walter Benjamin ihr über einen holländischen Freund zu einem Stipendium. „Die beiden Jahre, in denen ich die Benjamins kennenlernte, gehören zu den wichtigsten in meinem Leben” (84).


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Berlin galt als toleranteste Stadt in Europa und war ein Paradies für Homosexuelle. Charlotte Wolff beschreibt geradezu euphorisch, wie das erotische Klima von Berlin sie erregte, sie sich in ihrer Orientierung nie belästigt, sondern akzeptiert wusste; auch der Paragraph 175 für Männer erheblich gemildert wurde. Erotische Liebe, entsprechende Sehnsüchte veranlassen Charlotte Wolff zu einer Vielzahl an Gedichten, um diese Erlebnisse zu verarbeiten. Sie besucht alleine oder mit Freundinnen die beliebten lesbischen Lokale. Vor allem die „Verona Diele“ übt auf sie „einen unvergesslichen Zauber aus” (94). Sie erwähnt aber auch, dass, bei aller Großzügigkeit, Razzien in lesbischen Clubs vorkamen.


Ihre frühere große Liebe Lisa kommt 1923 aus Russland nach Berlin, obwohl verheiratet und mit einer zwei-jährigen Tochter verbringen beide täglich die Abende miteinander. „Ich war wie zuvor von ihr hypnotisiert” (99). Früher als geplant, reist Lisa, vom Ehemann geholt, wieder ab. In der Krise und Depression danach taucht Katharina als Retterin auf. Mit ihr verbindet sie eine neunjährige, ihre erste längere, Partnerinnenschaft. Katharina organisiert für sie beide im Juni 1924 eine Reise auf die Krim, wo sie Lisa treffen. Zunächst sind es wundervolle Wochen. Dann stellt sich heraus, dass Lisas Ehemann für den KGB arbeitet. Charlotte Wolff und Katharina reisen schnellstens ab, um einer Festnahme zu entgehen. Das Wunder des Wiedersehens mit Lisa verdankt sie dem Mut und der selbstlosen Liebe von Katharina. Nach all diesen Turbulenzen absolviert Charlotte Wolff ihr Abschlussexamen und erhält eine Anstellung als Ärztin für das „praktische Jahr“ im Virchow Krankenhaus (heute Teil der Charité).


Ärztin in Berlin


Das „praktische Jahr“ im Virchow Krankenhaus veränderte ihr Leben. Ihr Blick wendete sich weg von der Selbstzentrierung hin zur Verantwortung für Menschen mit gesundheitlichen und sozialen Problemen. Dennoch spürt sie nach wie vor das große Bedürfnis, sich mit Poesie zu beschäftigen, auch selbst Gedichte zu verfassen. Diese widerstrebenden Bedürfnisse bekommt sie vorerst nicht zusammengefügt.


Den Anforderungen des ärztlichen Berufes fühlt sie sich nicht gewachsen. Sie wird depressiv und somatisiert. Die Rettung aus diesem Dilemma taucht in Gestalt einer Aufgabe bei den Allgemeinen Krankenkassen auf, vermittelt durch Katharina. Schwangerschaftsfürsorge wird zu ihrem Schwerpunkt für die untere Mittelschicht und für die Arbeiterklasse. „Nie habe ich mich sicherer gefühlt, als während der fünf Jahre als Ärztin bei den Krankenkassen Berlin” (113).


Im Jahr 1928 verdienen Katharina und Charlotte Wolff ausreichend Geld, um ihr Leben zu genießen. Aber Beziehungsprobleme tauchen auf und Charlotte Wolff befällt urplötzlich die Agoraphobie, eine Form neurotischer Angst. Der Schock mit Lisa sitzt tief und die immer helfende Katharina kann keine emotionale Rettung sein. Ein Kneipp-Sanatoriums-Aufenthalt in der Nähe von Innsbruck bringt die Angstsymptome vorerst zum Verschwinden. Sie lernt, ihre verschiedenen Bedürfnisse besser miteinander zu vereinbaren. Ihr Freundeskreis von KünstlerInnen und SchriftstellerInnen erweitert sich; Theaterbesuche der berühmten Berliner Bühnen genießt sie wieder. Drei ihrer Ärztinnenkolleginnen werden ihr gute Freundinnen. Eine davon – Kommunistin – erteilt ihr politischen Aufklärungsunterricht. Sie wird daraufhin aktives Mitglied des Vereins „Sozialistische Ärzte“, ein Schritt, der ihr nicht so recht behagte, da sie als eingefleischte Individualistin jede Art von Organisation „haßte“ (118).


Im Rahmen der ärztlichen Beratungsarbeit fiel Charlotte Wolff 1929 die Aufgabe zu, eine Klinik für Schwangerschaftsverhütung einzurichten – die erste dieser Art in Deutschland. Diese Arbeit versteht sie rückblickend als „eine Art erster Unterricht in Sexualwissenschaft und Psychotherapie” (118). Fortan beschreitet sie den Weg in die soziale und psychologische Medizin, „die die Grenzen traditioneller, gesellschaftlicher und medizinischer Einstellungen sprengte” (119). Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft und seine Veröffentlichungen zur „Geschlechtskunde“ – revolutionär zur damaligen Zeit – erreichte Charlotte Wolff in ihrer wissenschaftlichen Brisanz erst sehr viel später, obwohl ihre Arbeit im Hinblick auf Geburtenkontrolle auf gleicher Linie lag.


Zu ihrem damaligen Lebensgefühl und dem der (jungen) Frauen schreibt sie rückblickend: „Wir waren frei und hielten uns nie für Bürger zweiter Klasse im Gegensatz zu den Frauen der Arbeiterklasse“ (123). Mit vielen andern aus ihren Kreisen betrachtete sie sich der „internationalen Avantgarde zugehörig, die einander in jeder Sprache verstanden“ (123). Zu dem avantgardistischen Verhalten erzählt Charlotte Wolff ein Beispiel ihrer Freundin Helen Hessel, die ein Dreiecksverhältnis mit ihrem Mann und einem Liebhaber P.R. ohne gegenseitige Eifersucht lebte. „Frei von Eifersucht zu sein, bedeutet ohne Besitzdenken leben zu können. Eifersucht, Neid, Konkurrenzdenken sind integrale Bestandteile kapitalistischer Mentalität, mit der die Gesellschaft durch den Machtkampf männlicher Vorherrschaft infiziert wurde“ (124/125).


Im Frühjahr 1931 wird ihr nahegelegt, die Schwangerschaftsfürsorge und die Familienplanungs-Klinik nicht fortzusetzen – aus politischen Gründen. Sie wird durch Empfehlung nach einer Einarbeitungszeit, im April 1932, Direktorin des Elektro-physikalischen Instituts in Neukölln. Dort genießt sie die ruhige Atmosphäre, die fähige und loyale Belegschaft. In diese Zeit fällt der Beginn ihrer Studien in Chirologie (Wissenschaft vom Handlesen); sie besucht einschlägige Kurse. Dem Vermittler dieser Methode fühlt sie sich zu „ewigem Dank“ verpflichtet, weil sie einen großen Teil ihres Lebens der Erforschung der Hand-Interpretation gewidmet hat und später im Exil ihren Lebensunterhalt damit verdienen konnte.


Die politische Situation für Juden und Jüdinnen spitzt sich zu. „Tod den Juden“ steht auf Straßen-Spruchbändern. Katharina trennt sich von ihr, weil sie Jüdin ist. „Es sei zu gefährlich“ – so deren Vater. Sie ist emotional verstört ob dieses Verrates. Andererseits bieten FreundInnen und KollegInnen Hilfe an und bewegen sie, das Land nicht zu verlassen, was sie bereits erwägt.


Im Februar 1933 wird ihr zum 1. April gekündigt, ihren Dienst muss sie sofort quittieren. Am Tag darauf wird sie in der U-Bahn verhaftet unter dem Vorwand: „Sie sind eine Frau in Männerkleidung und eine Spionin” (127). Sie ist wütend, wehrt sich, wird aber dennoch von der Gestapo zur Bahnhofswache gebracht. Dort erkennt ein Wachmann sie als die Ärztin seiner Frau; daraufhin wird sie freigelassen. Drei Tage später findet bei ihr eine Hausdurchsuchung statt, weil sie angeblich eine gefährliche Kommunistin sei. Nach diesem Erlebnis erwirbt sie sehr schnell einen gültigen Pass und am 23. Mai 1933 gelingt ihr unter äußerster Anspannung die Flucht über Aachen nach Paris.


Als Flüchtling in Paris


Charlotte Wolff ist 36 Jahre, als sie verzweifelt und dennoch befreit als Flüchtling in Paris ankommt. Ihre Freundin Helen Hessel und deren Sohn Paul nehmen sie zunächst auf, später ziehen sie in eine gemeinsame Wohnung. Helen Hessel ist eine wichtige Mittlerin für Wolffs neue Existenz. In Sanary (Südfrankreich) macht sie sie bekannt mit der dortigen kulturellen Kolonie, zu der auch Marie und Aldous Huxley (1894-1963) gehören. Beide sind an der Methode des Handlesens interessiert und lassen sich darin unterrichten. Durch Vermittlung von Maria Huxley bekommt Charlotte Wolff Kontakt zu verschiedenen Ärzten und Kliniken. Dadurch kann sie ihr Hand-Diagnose-Verfahren weiterentwickeln, weil sie Zugang zu unterschiedlichen PatientInnen erhält. „Durch diese Arbeit lernte ich die wichtigsten Grundlagen für eine holistische Sicht der Hand-Diagnose” (135). Nach einem Jahr macht sie sich als Chirologin selbstständig, um Geld zu verdienen, denn als Flüchtling bekam sie keine Arbeitserlaubnis in ihrem Beruf als Ärztin. Maria Huxley war jene, die sie dazu ermunterte und sie gleichzeitig mit dem entsprechenden Klientel aus Künstlern, Schriftstellern und AristrokatInnen bekannt machte. Ihre Fachkenntnisse sind gefragt, ihr Einfluss durch ihre Deutungen wächst. Das erschreckt und fesselt Charlotte Wolff zugleich. Besonders die ihr unvertraute Welt der Aristokratie fasziniert sie, deren liberaler und progressiver Lebensstil.


Trotz ihrer persönlichen positiven Situation in der Wohngemeinschaft mit den Hessels und ihrer beruflichen Erfolge in einem ihr eher aufgezwungenen Metier plagen sie hin und wieder auch Selbstzweifel, Ängste und Entwurzelungsgefühle. Dennoch, Unterstützung und Stärkung erfährt sie weiterhin, neben den Quäkern, von einer beeindruckenden Anzahl von surrealistischen, meist männlichen, Musikern, Dichtern, Philosophen und Malern, die ihr Klientel vergrößern. In der surrealistischen Zeitschrift „Minotaure“ erscheint 1935 ein Beitrag von ihr über Handanalysen von KünstlerInnen und SchriftstellerInnen. Frauen unter den Surrealisten befinden sich in der Minderzahl. Die männlichen Surrealisten zeigen keinerlei Interesse, keine Aktivitäten, um Frauen ebenbürtig zur Geltung zu bringen. Das lässt sie fragen: „Wie war es möglich, dass Frauen das „andere“, das untergeordnete Geschlecht werden konnten, statt die Evolution der Menschheit anzuführen?” (148). Und sie fährt fort, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geschlechter zu psychologisieren und endet mit der Feststellung, dass die Menschen bisexuell angelegt sind, allerdings, so folgert sie, sind Frauen und besonders Künstlerinnen dazu offensichtlich eher in der Lage (149).


Die Situation in Frankreich, die Begegnungen mit Menschen, die ihr halfen, unterstützten und schätzten, auch ihre erfolgreiche berufliche Entwicklung lässt sie bis dato resümieren: „Ich habe das große Los gezogen” (150).


Dann geschieht etwas, das ihr Leben wieder einmal verändern sollte. Eine sie beleidigende antisemitische Äußerung ihrer bisherigen Gönnerin Helen Hessel setzt dieser Freundschaft ein jähes Ende. Dieser „Verrat“ löst bei Charlotte Wolff grundsätzliche Reflexionen über das Verhältnis von Juden und Deutschen aus. (Diese Unterscheidung trifft Charlotte Wolff durchweg in ihrer Autobiografie, vergl. auch S. 151-155). Die gemeinsame Sprache, die kulturellen Wurzeln, der Lebensstil werden im Lichte des Nazideutschland kritisch hinterfragt und führt schließlich zur Ablehnung alles Deutschen, ebenso zu Fragen des Jüdisch-Seins in der Welt (im Ergebnis dieser Identitätssuche wird sie sich später als internationale Jüdin mit britischem Pass verstehen). Noch ist sie in Frankreich und fühlt sich durch die klärende Reflexion, wenngleich zunächst deprimiert, auch befreit und lässt sie fortan Paris als die Stadt der Kultur genießen.


Wieder ist es Maria Huxley, die eine Wende im Leben von Charlotte Wolff anstößt. Nicht nur, dass sie sie zum Schreiben eines Buches über Handinterpretationen motiviert, sie lädt sie auch nach London ein, um sie mit Berühmtheiten aller Art in Kontakt zu bringen. Zu diesem auserwählten Klientel gehört auch Virginia Woolf (1882-1941). Charlotte Wolff erinnert sich an einen bleibenden Eindruck und an Details ihrer „Sitzung“ mit Virginia Woolf, deren anfängliche Skepsis der Handlesemethode gegenüber, die schließlich einer fragenden Neugier wich.


Der Besuch in London und die guten Kontakte beruflicher und freundschaftlicher Art ließen den Entschluss keimen, Frankreich zu verlassen. Bevor sie tatsächlich von Frankreich aufbricht, um nach England zu emigrieren, erscheinen, als krönender Abschluss ihrer bisherigen Forschung, 1936 ihre „Studies in Hand Reading“ sowohl in England als auch in den USA. (Diese Handlesemedode wird heute von lesbisch-feministischer Seite, von Ulrike Janz,  kritisch, konkret rassistisch eingeschätzt).1


Ein neuer Anfang in London


Als Emigrantin lebt Charlotte Wolff in England zunächst auf unsicherem Boden, da die Aufenthaltsgenehmigung höchstens für ein Jahr gewährt wird. Ihre guten Beziehungen zu den Quäkern, den Huxleys, später auch zu Lady Ottoline Morell helfen aber in der Anfangsphase zu privaten, sozialen und beruflichen sehr befriedigenden Kontakten. Dennoch vermisst sie Paris. Vergleichbare Freundschaften wie dort fehlen ihr. „Mein Umzug nach England hatte mir wahrscheinlich das Leben gerettet, ließ jedoch meine Seele in der Wildnis zurück” (173). Im November 1937 erhält sie die ersehnte unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung und die Zulassung, um als Psychotherapeutin, nicht aber als Ärztin arbeiten zu können. Damit endet zumindest die äußerliche Unsicherheit.


Es bleibt die Sehnsucht „des Kindes nach der Mutter“, nach Aufmerksamkeit und Fürsorge, Unterstützung und Liebe. Die bekommt sie hauptsächlich von Frauen, von Männern die Kameradschaft. Aber sie bleibt misstrauisch, ob die ihr entgegengebrachte Zuneigung echt ist.


1938 läuft ihr „brauner“ Pass ab und sie bemüht sich, ihn um ein Jahr zu verlängern, welches auch gelingt. Im Zuge dieser Beantragungsprozedur erlebt sie in der deutschen Botschaft so viel Demütigendes, dass sie es vorzieht, von nun an die deutsche Staatsangehörigkeit abzulegen, um den „Nansenpass“ für Staatenlose zu erwerben. Dabei wird sie von wohlhabenden Frauen protegiert und finanziell unterstützt. Im Blick auf ihre Forschungs- und Publikationstätigkeit resümiert sie: „Es gab in England entschieden mehr Gelegenheit, den Horizont meiner Forschungsarbeit zu erweitern als in Frankreich” (188). 1942 erscheint „The Human Hand“ und 1945 „Psychology of Gesture“ im gleichen Verlag. Als England die schwierigsten Zeiten erlebte, „segelte ich als Forscherin und Autorin auf den Wogen des Erfolges” (189). Keine Frage, insofern ist sie dem Land Großbritannien in Dankbarkeit verbunden. Nur schien das Privatleben dabei zu kurz zu kommen.


Während des Krieges macht sie gegenüber ihren früheren Kontakten neue Erfahrungen mit einem anderen Teil der britischen Bevölkerung, den Menschen der „unteren Klassen“ (191), dem Volk. Diese erzwungenen Luftschutzkeller-Gemeinschaften erlebt sie als wohltuend humorvoll und bereichernd. Mit dem Ende des Krieges öffnen sich wieder die Grenzen, Reisen werden möglich. 1947 tauscht sie den Pass für Staatenlose gegen einen britischen Pass ein. Eine Nostalgie-Reise nach Paris – Charlotte Wolff ist inzwischen 50 Jahre alt – endet nach ihrer Rückkehr mit dem Resümee: „Ich werde mich nie in England heimisch fühlen” (199). „Ein Fremder bleibt in England immer ein Fremder. Franzosen haben das Talent, Fremde zu integrieren” (183). Das Bedürfnis nach einem friedlichen Zuhause hatte sich bislang in England nicht erfüllt (das sollte bis an ihr Lebensende so bleiben) und sie beschreibt sich von nun an als „internationale Jüdin mit britischen Pass” (199). Das bedeutet auch, dass sie sich zwar als Jüdin identifiziert, aber kein jüdisches Kollektiv in England antrifft und sich stets in diesem Wahlland als Außenseiterin versteht.


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Wechselhafte Zeiten

1948 lernt Charlotte Wolff zwei Frauen kennen: Caroline und Isabel, die, wie sie mutmaßt, „versteckte“ Lesben sind. Ihnen ist sie zeitlebens in Freundschaft und auch Liebe zugetan. „Sie hatten mehr für mich getan, als irgendjemand sonst in diesem Land“ (219). Mit Caroline beginnt eine 3-jährige Liebesbeziehung, die Charlotte Wolff immer wieder über emotionale Krisen hinweg trägt. Während eines Paris-Aufenthaltes, zu dem sie für einen Vortrag über ihre Forschungen zur menschlichen Hand an die renommierte École des Hautes Études durch ihren Förderer Professor Wallon eingeladen wurde, erhält Charlotte Wolff täglich von Caroline Liebesbriefe. Jenseits der beruflichen / wissenschaftlichen Wertschätzung, die ihr gerade auch durch diese Reise entgegen gebracht wird, verhelfen ihr derartige Liebesbeweise zur emotionalen Sicherheit. Sie gesteht, dass sie eine nostalgische Sehnsucht verspürt nach dem verlorenen Paradies der Kindheit in Form einer fürsorglichen mütterlichen Gestalt. „Ich konnte in vieler Hinsicht in meinem Alltag auf eigenen Füssen stehen, doch emotional war ich von einer anderen Frau abhängig” (210).


1950 erscheint ihr Buch „The Hand in Psychological Diagnosis“, das sie als Krönung ihrer 19-jährigen Forschung betrachtet und das ihr die endgültige Registrierung als Ärztin verschafft. Mit dieser beruflichen und gleichzeitig sozialen Absicherung geht einher, dass ihre Selbstwertgefühle gestärkt und Selbstzweifel verringert werden. Obwohl von Freundinnen umgeben, gerade auch zurückgekehrten, die in ihr Leben „Wärme und Inspiration“ bringen, „wäre es jedoch falsch aus diesen glücklichen Umständen zu schließen, dass ich mich in Großbritannien heimisch fühlte. Ich war nicht in der Lage, mich als etwas anderes zu betrachten, als ein adoptiertes Kind dieses Landes, als Außenseiterin“ (220-222).


In den 60er Jahren verschiebt sich deutlich ihr wissenschaftliches Interesse. Das Thema Homosexualität gerät in den Vordergrund. Ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis zufolge versteht sie die Homosexualität als eines, das die gesamte Menschheit betrifft, seien es deren Konflikte, Sorgen oder Freuden. Ein erster Entwurf dazu entsteht 1960 mit ihrem Buch „On the Way to Myself“. 1967 startet sie schließlich mit der systematischen Erforschung der weiblichen Homosexualität.


Sexualwissenschaftliche Forschung

Charlotte Wolff fragt sich rückblickend, was sie zu der Erforschung der weiblichen Homosexualität veranlasst hatte. Weder die eigene emotionale Geschichte noch die von Freundinnen und Patientinnen waren die treibende Kraft. Auch interessierten sie keine lesbischen Kollektive, weder politischer noch wissenschaftlicher Art. Ihr widerstrebte die für sie damit verbundene Ghettobildung derartiger Gruppenbildungen. „In meinen Augen war es unsensibel und unzivilisiert aus einer ganz und gar natürlichen Art zu leben und zu lieben, einen Brennpunkt öffentlicher Diskussion zu machen“ (224). Ihre Forschungsmotivation speiste sich aus anderen Quellen, aus ihrer Erkenntnis, „dass die Gesellschaft aus Männern und Frauen Artefakte macht, sie einander emotional entfremdet“ (224). Der aufkommende Feminismus hat sie schließlich angeregt, zur weiblichen Homosexualität zu forschen. „Wahrscheinlich war es vor allen Dingen der Feminismus, der mich angeregt hat, über weibliche Homosexualität  zu forschen. Noch bevor es die Frauenbewegung gab, war mir klar, dass Feminismus untrennbar mit Lesbianismus zusammenhängt. Die lesbische Frau ist die geborene Feministin, denn sie ist frei von emotionaler Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht.“ (225). In ihrem Buch „Love Between Women“ veröffentlicht sie 1971 ihre Forschungsergebnisse: Von 108 lesbischen und 125 Frauen der Kontrollgruppe erhebt sie Daten und interviewt sie. Auffälligstes Ergebnis war, dass lesbische Frauen im Unterschied zur Kontrollgruppe ein stärkeres Bedürfnis nach Unabhängigkeit haben und insgesamt ein schärferes emotionales Profil besitzen (228). Charlotte Wolff erlangte durch ihre Forschung einen klareren Blick für die politische Brisanz homosexueller Lebensweisen. Auch erkannte sie, welch individueller Mut und persönliche Integrität dazu gehört, sich gesellschaftlicher Dummheit und Vorurteilen zu widersetzen. Ihr wurde bewusst, welche falschen Vorstellungen über lesbische Liebe existieren und dass lesbische Frauen in dieser Gesellschaft zusammenfinden müssen, um für sich einen Raum der Freiheit zu garantieren. Sie war überzeugt, dass „die erste Lektion weiblicher Befreiung nur von homo- und bisexuellen Frauen gelehrt werden kann. Denn emotionale Freiheit vom Mann ist eine notwendige Bedingung der Freiheit aller Frauen“ (230). Darüber hinaus entdeckte sie, „dass Männer es sich nicht erlauben können, lesbische Liebe zu tolerieren, denn durch sie würde jene Säule, auf der ihre Selbstachtung ruht, zerstört [...]. Die Lesbierin ist die gefährlichste Widersacherin des Mannes. Sie bedroht ihn in jeder Hinsicht: emotional, sozial, sexuell“ (230). Einen weiteren Grund der Feindseligkeit des Mannes gegenüber der „befreiten Frau“ sieht Charlotte Wolff in dem Neid auf deren reproduktive Fähigkeit und an der daraus resultierenden, besonders vorgeburtlichen, Mutter-Kind-Intimität, von der er qua Natur ausgeschlossen ist. Die einzige Chance daran teilhaben zu können, ist jene, selbst das Kind einer Frau zu werden, eine jahrhundertelange viel praktizierte Realität. Sie ist aber keine Lösung der problematischen Geschlechterkonstellation. Charlotte Wolff plädiert demzufolge neben der Frauenbewegung für eine Befreiungsbewegung der Männer als die Notwendigkeiten der Zeit. „Der Mann muss sich ändern und werden, was er von Natur aus ist – ein bisexueller Mensch“ (231). An diese Gedankengänge anschließend, entdeckt sie: biologisch betrachtet, beginnt das Leben bisexuell, d.h. über drei Monate ist der Fötus sexuell undifferenziert. Homo- und Heterosexualität sind demnach sekundäre Entwicklungsstadien (233). Diese Tatsache machte Charlotte Wolff neugierig, ob bei den von ihr untersuchten lesbischen Frauen auch „unterschwellige“ bisexuelle Neigungen vorhanden waren. In der Tat hatte die große Mehrheit Beziehungen zu Männern gehabt. Diese Entdeckung brachte sie auf den Weg, die Bisexualität genauer zu erforschen.


Bevor Charlotte Wolff sich dieser Forschung widmet, verordnet sie sich eine schöpferische Pause, indem sie sich ihren lang gehegten Wunsch erfüllt: das lesbische Thema in einem Roman zu bearbeiten. Drei Jahre nach Fertigstellung erscheint 1976 „An Older Love“ (deutscher Titel „Flickwerk“).


In der 1977 (1979 deutsch) erschienenen Studie zur Bisexualität entwirft Charlotte Wolff eine „bisexuelle Gesellschaft“, von der sie annimmt, „dass uns nur diese von Sexismus und der ganzen Skala psychosexueller und sozialer Unterdrückung befreien kann“ (237). Sie betont allerdings, dass eine bisexuelle Gesellschaft „keine Wertunterschiede bei der einen oder anderen ‚Liebesorientierung’ macht. Biografische Ereignisse sind es im Wesentlichen, die zur Homo- Hetero- Bisexualität führen“ (236). Bisexualität als Lebensform anzuerkennen, davon fühlen sich die meisten gewöhnlichen Menschen abgestoßen. Diese können mit einer solchen, in ihren Augen paradoxen, Situation nicht zurande kommen“ (236). Für diese sind Liebesbeziehungen nur exklusiv für zwei Menschen denkbar, sonst herrscht Chaos und Verwirrung. Das kapitalistische Besitzdenken durchdringt die Vorstellungswelt der meisten Menschen und macht sie intolerant gegenüber der bisexuellen Lebensweise. Homosexuelle beiderlei Geschlechts sind da keine Ausnahme. Interessant ist der Befund, dass sich bisexuelle Menschen emotional stärker zu Frauen als zu Männern hingezogen fühlen. Die „bisexuellen Männer und Frauen fühlten sich miteinander wohl, denn die Männer waren weniger oder gar nicht phallusfixiert im Gegensatz zu homo- und heterosexuellen Männern“ (238).


Im Fazit ihrer sexualwissenschaftlichen Forschung kommt Charlotte Wolff zu dem Ergebnis, dass die bi- und homosexuellen Menschen als die jetzigen Außenseiter der Gesellschaft ein primäres Interesse an einer von ihr skizzierten toleranten Gesellschaft haben. Sie könnten die treibende Kraft sein, um den Erfordernissen einer derartigen kulturellen Revolution zu begegnen. Für sie eine „Notwendigkeit, um das Überleben der menschlichen Rasse“ zu gewährleisten (244).


Willkommen als Heimkehrerin in Berlin

Charlotte Wolff nähert sich 1964 erstmals – auf Drängen ihrer Freundin – dem Land ihrer Geburt. Die Reise nach Konstanz und Umgebung endet allerdings abrupt durch eine vermeintliche nonverbale Hassbegegnung mit einem Passanten. Erinnerungen an 1933 werden virulent. Eine deutsche Übersetzerin von „Innenwelt und Außenwelt“, die Journalistin und Filmemacherin Christel Buschmann (geb. 1942), die sieben Jahre später nach London kommt, lässt die noch hartnäckig vorhandenen Vorurteile gegenüber Deutschland schließlich wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Von nun an zeigt sich Charlotte Wolff aufgeschlossen gegenüber deutschen Feministinnen. In Westberlin hatte sich die Gruppe L74 („L“ stand für Lesbos), ein Zusammenschluss vorwiegend berufstätiger lesbischer Frauen gegründet. Deren Anliegen war es, die Situation der lesbischen Frauen in den zwanziger Jahren zu erforschen. Als Charlotte Wolff als Zeitzeugin und Interviewpartnerin angefragt wird, willigt sie bereitwillig ein. Höhepunkt dieser Zusammenarbeit ist dann die Einladung von Charlotte Wolff nach Berlin. Die Gruppe L74 und der Berliner Frauen-Buchladen „Labrys“ hatten sie für eine Lesung von „Flickwerk“ sowie von „Innenwelt und Außenwelt“ in die Amerika Gedenkbibliothek gewinnen können. 1978, also 81jährig, reist Charlotte Wolff erstmals nach Berlin. Es wird ein grandioser Erfolg für sie. Zu den Lesungen waren 400 Menschen, meist Frauen, gekommen. Glücklich resümiert sie: „Die Aufmerksamkeit und Begeisterung der Zuhörer gaben mir das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein. Ich war nach Berlin zurückgekehrt“ (288). Und nach dem anschließenden Restaurantbesuch: „An diesem Abend erlebte ich eine Art emotionaler Wiedergeburt“ (288). Weitere Veranstaltungen und Begegnungen, die sie bewegen und die sie genießt, folgen. Sie erkundet mit ihren Gastgeberinnen einige West- und Ostberliner Bezirke, auch Orte, wo sie einstmals gelebt hatte. Einiges ist ihr vertraut, vieles aber auch fremd, eine neue Sprache der Topografie muss sie erlernen. Alles in allem resümiert sie, war die Großzügigkeit meiner Gastgeberinnen und Zuhörerinnen überwältigend. „Ich hatte gerade begonnen wieder eine Welt zu betreten, in der ich einmal gelebt hatte. Obwohl sie sich verändert hatte, sogar größtenteils verschwunden war, hatte ich einen Schatz gefunden, junge deutsche Frauen, mit denen ich in Kontakt bleiben würde“ (295-296).


Mit der Rückkehr nach London wächst der Wunsch, ein zweites Mal nach Berlin zu fahren. Eineinhalb Jahre später ist es so weit. Bei diesem neuerlichen Besuch interessieren sie weniger die Menschen, von denen sie bei ihrer ersten Reise so zahlreiche und wohlwollende kennengelernt hatte, sondern eher die Ideen und Vorstellungen der deutschen Feministinnen. Dazu hat sie reichlich Gelegenheit. Am 1. Oktober 1979 – einen Tag nach ihrem Geburtstag – landet sie wieder in Tegel und wird von den beiden „Labrys“-Frauen zu einer Geburtstagsfeier in deren Wohnung eingeladen. Charlotte Wolff bedankt sich u.a. mit den Worten: „es ist ein unschätzbares Geschenk, dass ich mich wieder deutschen Frauen zugehörig fühlen kann” (300). Die folgenden Veranstaltungen, die auf sie warten, sind eingebettet in die 4. Sommer-Universität für Frauen in der „Rostlaube“ der FU in Berlin-Dahlem. 7.000 Frauen widmen sich schwerpunktmäßig dem Lesbianismus im historischen Rückblick der Frauenbewegung und ihr Einfluss auf die gegenwärtige Kultur. Charlotte Wolff erinnert sich an viele, oftmals hitzige Diskussionen, bei denen es insbesondere um kontroverse Unabhängigkeitsdebatten zwischen hetero- und homosexuellen Frauen, gegenseitige Vorurteile oder die Identitätsthematik geht. „Die Vorstellung einer bisexuellen Gesellschaft rief Erstaunen und Diskussionen hervor. Zweifel wurden geäußert über die Möglichkeit, mit patriarchalen Einflüssen innerhalb einer solchen Gesellschaft fertig zu werden. Die Atmosphäre war gespannt. Am Ende jedoch schienen die Zuhörerinnen und ich in einer fröhlichen Schwesternschaft miteinander verschmolzen zu sein. An diesem Nachmittag habe ich die schönsten Augenblicke von allen öffentlichen Auftritten erlebt“ (308f.). Am Ende ihrer zweiten Reise nach Berlin bilanziert Charlotte Wolff im Vergleich zu ihrer ersten Begegnung mit deutschen Feministinnen: „Unter meinen Füßen war kein weicher Teppich mehr, sondern harter Boden. Ich war dennoch zufrieden, wenn ich die neuen Kenntnisse, die ich in Berlin gewonnen hatte – speziell über die deutschen Feministinnen – zusammenrechnete, denn sie waren eine unschätzbare Erweiterung meines Wissens“ (314). Und:


„Berlin war wieder ein Ort auf meiner emotionalen Landkarte geworden.


Es hatte mir ein neues Leben gegeben“ (316).




Sabine Kröner (Potsdam 2010)


* Wolff, Charlotte: „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit”. 1982; 1986; 2003


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1 Janz, Ulrike: (K)eine von uns?  Vom schwierigen Umgang mit ,zwiespältigen Ahninnen’. In: Ihrsinn 3/1991, S. 24-39, hier: 31f.


Zitiervorschlag:
Kröner, Sabine: Charlotte Wolff (1897-1986) - "Love between Women" [online]. Potsdam 2010. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_wolff_d.html> [cited DATE].
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