Rede von Christiane Leidinger


Christiane Leidinger während ihrer Rede am 9. April 2006 in Bonn © Catarina Stellmann


Dokumentation der Rede von Christiane Leidinger, die sie während der Gedenktafeleinweihung für Johanna Elberskirchen am 9. April 2006 in der Bonner Sternstraße 37 gehalten hat:


Es war zwar noch nicht 5 vor 12, aber politisch höchste Zeit, dass eine Frau vom Format einer Johanna Elberskirchen auf die Welt kam...


Eine halbe Stunde vor Mitternacht wurde am 11. April 1864 – also vor rund 140 Jahren – Johanna Carolina Elberskirchen in diesem Haus, das früher die Nummer 195 trug, von Julia Elberskirchen geboren. Damals ahnte noch niemand, wie viel Wirbel die kleine Johanna Carolina einmal machen würde und wie viel Wirbel einmal um sie gemacht werden würde.


Hier in der Sternstraße verbrachte Johanna Elberskirchen ihre Kindheit und Mädchenzeit, über die leider kaum etwas überliefert ist. Bücher aus ihrem Teilnachlass illustrieren indes, dass sie sehr früh eine begeisterte Leserin gewesen sein muss. Das Schreiben ließ bei ihr nicht lange auf sich warten. Außergewöhnlich für eine junge Frau, die in eine Kaufmannsfamilie geboren wurde, in der alle sechs Familienmitglieder im Einzelhandel tätig waren.


Den Berufsweg als Kauffrau wählte – zumindest zunächst – auch Johanna Elberskirchen.


Am 14. November 1884, also im Alter von 20 Jahren, zog sie nach Rinteln in Westfalen, im heutigen Niedersachsen gelegen. In Rinteln war sie sieben Jahre als Buchhalterin tätig. In dieser Zeit schrieb sie die ersten uns heute bekannten Texte – es waren durch und durch feministische Texte.


Zum Beispiel ein Artikel von 1887: Zu diesem Zeitpunkt war Johanna Elberskirchen 23 Jahre alt und reagierte in der Allgemeinen-Frauen-Zeitung, der Vereinszeitung für die österreichisch-ungarischen Frauen-Vereine auf eine Publikation des Philosophen Eduard von Hartmann (1842-1906). Hartmann schrieb:


„'Die Ausbildung der Mädchen für selbständige Berufsarten (...) macht die Mädchen weniger anziehend für die Männer“ und vergrößert „dadurch die Zahl der (...) sitzen bleibenden Mädchen.'“


Das wollte – und vermutlich ihrem Naturell gemäß konnte – Johanna Elberskirchen nicht unwidersprochen auf sich sitzen lassen, übte sie doch als Buchhalterin auch einen selbständigen Beruf aus und hatte zudem sicherlich die vielen anderen Frauen vor Augen, wie auch ihre Schwestern, die einen solch‘ steinigen und unsicheren Weg eingeschlagen hatten.


Ein Jahr später schreibt sie in der Monatsschrift für Litteratur und Kunst, Die Gesellschaft: „Die geistige Qualität ist gleich der des Mannes, der geistige Geschlechtsunterschied ist illusorisch! Wenn die Frau auf den Gebieten des Lebens heute noch nicht das geleistet hat, was der Mann geleistet, dann ist daran nur ihre relative Unfähigkeit schuld, oder besser gesagt: die sozialen Zustände! Zustände, die das Weib knechten und verknechten und zur geistigen Helotin des Mannes machen!“


Sie forderte von den Männern für die Frauen ihre „Rechte als Mensch“. Sollten die Männer dem nicht nachkommen, würden die Frauen selbst aktiv:


„Gebt ihr dem Weibe nicht, was des Weibes ist, dann wird das Weib sich nehmen was sein ist! (...) Auch hier im alten Europa wird man die stolze Fahne der Frauenemanzipation höher und höher hissen, – auch für uns wird der Tag kommen, an dem man das Weib als vollen, ganzen Menschen erklärt.“


Mit diesen pathetischen und kraftvollen Worten einer Anfang-Zwanzig-Jährigen nahm Johanna Elberskirchen ihr späteres feministisches Engagement gewissermaßen vorweg. Sie selbst griff – für ihre soziale Herkunft selten und mutig –, zunächst einmal nach dem, was Frauen verwehrt wurde: Bildung! Sogar nach akademischer Bildung!


Sie bereitete sich auf das externe Abitur vor – denn Mädchen durften nicht aufs Gymnasium und eine höhere Mädchenbildung war bürgerlichen Töchtern vorbehalten. Dann lieh sie sich Geld und ging in die Schweiz. Dort studierte sie, wie viele Frauen, denen nicht nur in Deutschland der Zugang zu den Universitäten verwehrt wurde, ab 1891 erst Medizin in Bern und später Jura in Zürich. Johanna Elberskirchen wollte sogar promovieren; doch daraus wurde nichts, ebenso wenig wie aus einem Studienabschluss.


Die für Frauen dieser Zeit ungewöhnliche akademische Bildung trug Johanna Elberskirchen in ihrer Familie auch prompt den Spitznamen ‚der Hannes‘ ein.


Aus der Schweiz kehrte sie um 1900 wieder zurück nach Bonn: Mit ihr kam eine Medizinstudienkollegin, die wahrscheinlich zu ihrer ersten langjährigen Lebensgefährtin wurde: Anna Maria Eysoldt (1868-1913), eine Schwester der berühmten Schauspielerin Gertrud Eysoldt (1870-1950), die kurzzeitig auch Theaterdirektorin in Berlin war.


In diese Rückkehrzeit nach Bonn fiel Johanna Elberskirchens intensive und provokante Auseinandersetzung mit Homosexualität. Sie wehrte sich gegen die sexualwissenschaftliche Pathologisierung so genannter konträrsexueller Frauen und Männer. Die Sexualwissenschaft deklarierte gleichgeschlechtliches Begehren wahlweise oder auch gleichzeitig als Krankheit, Perversion, Degeneration oder Laster. Johanna Elberskirchen ging aber noch einen Schritt weiter und dies macht einen zentralen Aspekt ihrer politischen Bedeutung aus: Sie kritisierte den pathologisierenden wie auch den emanzipatorischen Zweig der Sexualwissenschaft, der prominent mit dem Berliner Arzt Magnus Hirschfeld (1868-1935) verbunden wird. Denn beide Zweige der Sexologie konstruierten – vor dem Hintergrund gängiger und hierarchischer Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit und deren gegenseitiger Ergänzung – lesbische Frauen als männlich. Davon grenzte sich Johanna Elberskirchen scharf ab und argumentierte 1903 bzw. 1904 provokant und selbstbewusst:


„Was ist das Wesen der Homosexualität, der Liebe zum eigenen Geschlecht? Natürlich die Ausschließung des konträren Geschlechts, des männlichen bezw. des weiblichen. Wie kann nun die Liebe der Frau zur Frau einen Zug zum ‘Männlichen‘ haben? Das Männliche wird doch ausgeschlossen. Man könnte doch eher im Gegenteil behaupten und sagen in der Liebe der Frau zur Frau manifestiere sich ein Zug zum Weiblichen!“


Allerdings: Bei allem Mut, sich gegen wissenschaftliche Autoritäten zu stemmen - und damit komme ich zu einem heiklen Punkt im Denken Johanna Elberskirchens: Entartungs- und Degenerationsideen lehnte sie nicht grundsätzlich ab; sie wollte lediglich Homosexualität aus dem Katalog der Entartungserscheinungen gestrichen wissen.


Bislang lässt sich sagen, dass Johanna Elberskirchen in ihren sexualreformerischen Texten etwa ab der Jahrhundertwende zwar keine extrem rassenhygienischen Positionen vertrat und jegliche Formen von Zwangsmaßnahmen ablehnte.


Aber: Johanna Elberskirchen schwamm völlig selbstverständlich und unkritisch mit dem eugenischen Zeitgeist, der eine steuerbare Höherentwicklung des Menschen postulierte.


Dabei ist zu bedenken: Eugenische Vorstellungen, die sich zum Beispiel in der individuellen Förderung erwünschter Geburten konkretisieren, lag und liegt der Maßstab eines „gesunden“ „wertvollen“ beziehungsweise eines „kranken“ „minderwertigen“ oder gar „wertlosen“ Lebens zugrunde – spätestens nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus eine deutlich zu kritisierende Vorstellung.


Johanna Elberskirchens am Individuum ansetzende eugenische Haltung macht sie zu einer „zwiespältigen Ahnin“ und relativiert ihr sonst radikales Anderssein und ihr politisches Querdenken – schmälert es aber nicht. Hieran werden jedoch politische Widersprüche der sonst radikal emanzipatorischen Person Elberskirchens deutlich. –


Positiv auffällig ist Johanna Elberskirchens radikale Wissenschaftskritik, auch die an vermeintlicher Objektivität – vor allem von Wissenschaftlern, die über Frauen schrieben.


Und zeitgenössisch doppelt ungewöhnlich war: Johanna Elberskirchen stand öffentlich zu ihrer Homosexualität:


„Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir das doch mit guten Recht. Wen geht‘s an? Doch nur die, die es sind.“ Dieses Outing – wie wir heute sagen würden – ist auch ungewöhnlich, weil es mit einem Tabu in der Alten Frauenbewegung um 1900 brach: Zwar lebten viele Frauen der Bewegung ein Leben lang zusammen, aber keine bislang Bekannte nahm das sexualwissenschaftlich konstruierte Etikett homosexuell an, geschweige denn verkündete dies öffentlich in einer Publikation wie Johanna Elberskirchen. Ihre Stellung war auch im radikalen Flügel der Frauenbewegung entsprechend isoliert.


Johanna Elberskirchen beteiligte sich rege am politischen Geschehen in Bonn – vor allem in der Frauenbewegung und in der Sozialdemokratie. Elberskirchen stand sogar auf einer Roten Liste führender sozialdemokratischer Agitatoren und Agitatorinnen.


Über ihren Partei-Eintritt ist leider ebenso wenig bekannt wie über ihre theoretische Positionierung. Auch über ihr konkretes Engagement ist nur wenig überliefert.


Nachweisen lässt sich ihre Tätigkeit im sozialdemokratischen Jugendausschuss, dessen Vorsitzende sie von 1911 bis etwa 1913 gewesen ist. Diese Ausschüsse stellten nach 1908 eine Institutionalisierung der proletarischen Jugendbewegung dar und setzten sich zu einem Drittel aus Partei, Gewerkschaft und Jugendlichen zusammen. Aufgaben waren unter anderem die Überwachung des Jugendarbeitsschutzes – d.h. der Arbeitsbedingungen für Mädchen und Jungen bis einschließlich 15 Jahre – sowie die Organisation von Bildungsarbeit und Freizeitangeboten.


1912 bzw. 1913 wurde gegen Johanna Elberskirchen ein Ausschluss-Verfahren aus der Sozialdemokratie angestrengt, das anscheinend auch Erfolg hatte.


Für die Bonner SPD war – wohl verbunden mit dem Stichwort Klassenverrat – die gleichzeitige Mitgliedschaft in der SPD und in bürgerlichen Vereinen unvereinbar.


Und Johanna Elberskirchen kämpfte für das Frauenwahlrecht und die Gruppe, der sie angehörte, wurde von den SPD-Genossen als bürgerlicher Verein betrachtet.


Im Januar 1913 fand eine Kreiskonferenz des Sozialdemokratischen Vereins Bonn-Rheinbach statt, auf der u. a. ein „Antrag des Vorstandes auf Ausschluß eines Mitgliedes“ verhandelt werden sollte. Zu dieser Sitzung wurde – durchaus nicht selbstverständlich – sogar in einer großen Zeitungsannonce eingeladen. Das „Mitglied“, das hier geschasst werden sollte und auch wurde, ist sehr wahrscheinlich Johanna Elberskirchen. Ob ihr Frauenvereinsengagement einfach nur eine willkommene Gelegenheit war, eine unliebsame, zumal feministische Querdenkerin loszuwerden, oder ob hier ein allgemeines politisches Exempel statuiert werden sollte, lässt sich aus der Quellenlage leider nicht mehr klären. Denkbar ist jedenfalls, dass Johanna Elberskirchen mit ihrem rhetorischen Talent und ihren kritischen Schriften über die Sozialdemokratie den Genossen nicht ganz geheuer war und man sie loswerden wollte.


Vor dem Hintergrund ihres Engagements für das Wahlrecht war dies für Johanna Elberskirchen besonders bitter. Denn sie gehörte dem radikalen Flügel der Frauenstimmrechtsbewegung an, der das Drei-Klassenwahlrecht aufgehoben wissen wollte – also nicht nur die Einführung des Wahlrechts für bürgerliche Frauen forderte, sondern gleiches Wahlrecht für alle staatsangehörigen Frauen und Männer, unabhängig von Einkommen und gezahlten Steuern.


Alles andere wäre Elberskirchen zufolge - Zitat: „radikaler Verrat der politischen Frauenbewegung zugunsten einer beschränkten kleinen Frauenkaste“.


Für einigen Wirbel in Bonn dürfte die vom Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht unter Johanna Elberskirchens Vorsitz initiierte Kampagne anlässlich der Reichstagswahl im Januar 1912 gesorgt haben.


Der Stimmrechtsverein forderte in einer viertelseitigen Anzeige in der linksliberalen, radikaldemokratischen Zeitung Volksmund, dessen Mitarbeiterin Elberskirchen mindestens zwei Jahre gewesen ist, alle Frauen über 25 Jahre – unter anderem mit dem Satz „Frauen, es ist Zeit, daß Ihr Euch um die Politik kümmert!“ – dazu auf, sich im Wahllokal mit einer unterschriebenen Protestnote einzufinden und das Wahlrecht zu fordern.


Die "Bonner Zeitung" berichtet über die gelungene Aktion, dass „in den Wahlräumen an der Brückenstraße, an der Moltkestraße, an der Mechenstraße“ die Wahlvorsteher den Damen ruhig den Einspruch abnahmen, „nur der Wahlvorsteher des Wahlraumes an der Mechenstraße in Kessenich warf ihn der Dame vor die Füße.“


Diese Dame könnte Johanna Elberskirchen gewesen sein, denn sie wohnte in dieser Zeit in der Burbacherstraße 80, was vom besagten Wahlraum in der Mechenstraße nicht so weit entfernt ist.


Spätestens im Jahr 1914 verließ Johanna Elberskirchen im Alter von 50 Jahren endgültig das Rheinland und zog kurz vor oder zu Beginn des 1. Weltkrieges ‘gen Osten. 1914 arbeitete Johanna Elberskirchen in Finkenwalde in der Nähe von Stettin, im heutigen Polen gelegen, im Sanatorium Bismarckhöhe – vermutlich als so genannte Naturärztin.


In diesem Sanatorium lernte Johanna Elberskirchen Hildegard Moniac (1891-1967), die dort Patientin war, kennen und lieben. Zusammen gingen sie erst nach Berlin, wo Johanna Elberskirchen von 1915 bis 1919 in der Säuglingsfürsorge und Moniac als Gewerbeoberlehrerin arbeitete. 1920 kauften sich die beiden Frauen gemeinsam ein Haus in Rüdersdorf, einer kleinen im Südosten Berlins gelegenen Gemeinde.


In diesem Haus eröffnete Johanna Elberskirchen im Alter von 56 Jahren eine Praxis für homöopathische Heilbehandlungen, die sie bis zu ihrem Tod führte – trotz Berufseinschränkungen durch die Nazis.


Politisch fasste Johanna Elberskirchen in Rüdersdorf während der Weimarer Republik schnell wieder Fuß und engagierte sich in der Rüdersdorfer SPD. Ob sie den Genossen dort von ihrem Bonner SPD-Rauswurf erzählt hat?


Parallel zu ihrem SPD-Engagement war Johanna Elberskirchen in Berlin politisch aktiv: Sie amtierte als eine der wenigen Frauen von 1914 bis mindestens 1920 als sog. Obmann im Whk. Das Whk, wie das Wissenschaftlich humanitäre Komitee meist nur kurz genannt wurde, war 1897 als wissenschaftspolitische Vereinigung unter anderen vom Berliner Arzt Magnus Hirschfeld gegründet worden, insbesondere um Lobbyarbeit für die Streichung des ausschließlich Schwule betreffenden Strafrechtsparagraphen 175 zu machen – wobei die Ausweitung des Paragraphen auf lesbische Frauen immer wieder diskutiert wurde.


Der dürftigen Quellenlage zufolge spielte Johanna Elberskirchen im Whk und im 1919 gegründeten Berliner Institut für Sexualwissenschaft und in der Weltliga für Sexualreform, für die sie später referierte, nur eine randständige Rolle, war eher Alibifrau und notwendige Bündnispartnerin im Kampf gegen den Paragraphen 175, als gleichberechtigt wahrgenommene politisch oder wissenschaftlich arbeitende Mitstreiterin.


Im Laufe ihres Lebens erlangte Johanna Elberskirchen überregionale und in zeitgenössischer Diktion internationale Bedeutung als politische Rednerin und Schriftstellerin. Sie publizierte zu und engagierte sich für viele feministische Themen: u. a. geschlechtsspezifische Erziehung und Bildung, Frauenstudium, Gewalt gegen Mädchen und Frauen, Säuglingssterblichkeit, Mutterschaft und sog. geistige Mütterlichkeit sowie Kinderheilkunde und Wahlrecht. Sexualreformerisch und sexualwissenschaftlich setzte sie sich intensiv mit Ehe, Prostitution, Heterosexualität und Homosexualität auseinander. Quer zu ihrer Kritik an der „Geschlechtspolitik“, wie sie es selbst nannte, lag stets ihr kritischer Blick auf der „Klassenpolitik“.


Insgesamt sind neben zahlreichen Aufsätzen und Zeitungsartikeln bis zu ihrem Publikationsende 1933 mindestens ein Dutzend Bücher in mehreren Auflagen von ihr erschienen – anfänglich unter ihrem Pseudonym Hans Carolan. Zudem gab sie die Zeitschrift „Kinderheil“ und einen gleichnamigen Kalender heraus.


Bei ihrer vermutlich letzten Veröffentlichung von 1931, einer Vortragsdokumentation des Kongresses der Weltliga für Sexualreform, der 1930 in Wien stattfand, war Johanna Elberskirchen 67 Jahre alt. Die Aufnahme in die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer, die eine Grundvorsetzung für die Publikation während des NS in Deutschland gewesen ist, hat sie nie beantragt.


Es stellt sich die Frage, was es für Johanna Elberskirchen bedeutet hat, unter den politischen Verhältnissen des NS nicht mehr schreiben zu können? Nicht mehr öffentlich reden zu können.


Johanna Elberskirchen war eine politisch äußerst mutige, eine widerspenstige und sperrige, eine bewusst provokante, polemische und plakativ schreibende und redende Frau. Sie dachte – vor allem abgesehen von Eugenik – radikal und oft quer zum mainstream der damaligen Zeit. Sie scheute keine Autoritäten, auch keine wissenschaftlichen. Ihre Texte waren ironisch, oft bissig und gelegentlich dem Sarkasmus zugeneigt. Oder auch nur böse, wenn sie sich über Ungerechtigkeiten ärgerte. Manchmal schlich sich auch ein selbstgefälliger Ton ein, was vielleicht damit zusammenhängt, dass sie, obwohl sie in vielen Organisationen politisch mitmischte, eher Einzelgängerin und Einzelkämpferin gewesen ist. Kein Wunder ! Denn sie schloss sich Organisationen an, von denen sie wissen musste, dass sie darin persönlich und mit Teilen ihres politischen Denkens und Handelns aneckte: wie etwa mit der Thematisierung von Homosexualität in der Alten Frauenbewegung, von Feminismus in der SPD und in der Homosexuellenbewegung oder als Studienabbrecherin im Dunstkreis von Sexualwissenschaftlern, die zumeist promovierte und approbierte Ärzte waren.


Johanna Elberskirchen starb am 17. Mai 1943 im Alter von 79 Jahren morgens um 8 Uhr 20 im Kreiskrankenhaus Rüdersdorf.


Die Urne mit ihren sterblichen Überresten wurde Anfang Juni 1975 – also über dreißig Jahre nach ihrem Tod – von zwei Frauen in einer Art Nacht- und Nebel-Aktion heimlich in der Grabstätte ihrer Lebensgefährtin Hildegard Moniac auf einem Rüdersdorfer Friedhof beigesetzt.


Im Rahmen meines Studiums las ich Anfang der neunziger Jahre für eine Hausarbeit erstmals einen Text von Johanna Elberskirchen und war fasziniert von ihrem Mut, ihrer Leidenschaft und ihrer innovativen und in vielerlei Hinsicht modernen Denkweise. Ich wollte wissen, wer die Frau hinter den Zeilen war. Diese Neugier musste aber noch ein paar Jahre ausharren.


2001 begann ich meine Forschungen über Leben und Werk von Johanna Elberskirchen. Ich knüpfte an die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Norbert Oellers und Wilfried Busemann an und führte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, während derer ich auch von der schönen Geschichte der Urnen-Nachbestattung erfuhr. Dann ließ ich die Arbeit mehr oder weniger wieder ruhen, bis ich meine Dissertation – zu einem ganz anderen Thema– zu Ende geschrieben hatte; 2002 bemühte ich mich um den Erhalt der zerfallenen Grabstätte, die im Dezember von der Gemeinde Rüdersdorf bei Berlin einstimmig sogar als so genanntes Ehrengrab unter Schutz gestellt wurde. Im Sommer 2003 fand eine von einhundert Personen besuchte Gedenkfeier für Johanna Elberskirchen und deren letzte Lebensgefährtin Hildegard Moniac auf dem Friedhof statt. Dabei wurden auch zwei ausführliche Grabtafeln der Öffentlichkeit vorgestellt.


Der Funke der politischen Begeisterung für Johanna Elberskirchen sprang 2003/2004 über – sozusagen von der Spree an den Rhein und entzündete sich dort. Und so freue ich mich politisch sehr, heute hier diese Gedenktafel am Geburtshaus von Johanna Elberskirchen hängen zu sehen. Damit wird eine lesbische und feministische Kämpferin in die Stadtgeschichte eingeschrieben und eine Lesbe der Geschichte sichtbar gemacht – letztlich auch stellvertretend für all’ die anderen unsichtbaren Frauen liebenden Frauen.


Gedenktafeln fallen bekanntermaßen nicht vom Himmel: Ich danke besonders herzlich Ingeborg Boxhammer und Erika Coché für deren unermüdliches Engagement und für die gute Zusammenarbeit, ohne die diese Tafel hier nicht hängen würde!


Außerdem danke ich denjenigen, die im Vorder- und Hintergrund diese Feier heute vorbereitet haben und auch denen, die daran mitwirken.


Es ist mir eine große Freude, heute hier zu sein!


Die Informationen über die Kürzungspolitik und die Abschaffung von Aufklärungsmaterial der Kampagne „andersrum ist nicht verkehrt“ habe ich mit großer politischer Verärgerung zur Kenntnis genommen:


Deshalb wünsche ich – im Sinne von Johanna Elberskirchen – allen Bonner und NRW-Lesben, Schwulen und Transgendern und allen sich Solidarisierenden einen langen Atem, Mut und Frechheit für den Widerstand gegen Sexismus, Heterosexismus und gegen andere Unterdrückungsformen nicht nur, aber am heutigen Tag besonders in NRW.




© Christiane Leidinger (Berlin 2006)