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Lesben und Nationalsozialismus

Zum aktuellen Forschungsstand über lesbische Frauen im Nationalsozialismus (2002)


Lesbengeschichte im Nationalsozialismus – neue Spuren (2009)



 Zum aktuellen  Forschungsstand über lesbische Frauen im Nationalsozialismus (2002)


"Am Anfang war die Suche nach dem Wort. Als ich vor etwa 15 Jahren in West-Berlin nach den Spuren lesbischer Frauen in der NS-Zeit zu suchen begann, herrschte Leere: Es gab weder einen Aufsatz, geschweige denn eine umfassende Untersuchung zu dieser Thematik. Auch die wenigen Aufsätze und Bücher zum geschlechtsneutral formulierten Thema 'Homosexuelle im Nationalsozialismus' beschränkten sich fast ausschließlich – ob eingestandenermaßen oder nicht – auf die Verfolgung der männlichen Homosexualität bzw. das Schicksal homosexueller Männer, und die Forschung über Frauen im Nationalsozialismus nahm das Thema überhaupt nicht wahr. Die Ausgangslage war also schwierig, aber vielleicht reizte mich diese Tabula rasa gerade. [...]"1


An meiner 1997 veröffentlichten Feststellung hat sich leider bis heute nicht allzu viel geändert. Nach wie vor gibt es – neben meiner eigenen Dissertation2 – keine weitere historische, auf Quellenmaterial basierende Untersuchung über die Situation lesbischer Frauen im Nationalsozialismus. Von meinen eigenen Veröffentlichungen3 abgesehen sind nur sehr wenige Publikationen zu diesem Thema hinzugekommen.4 Welche dies sind und warum es m.E. so wenig Veröffentlichungen gibt, will ich im Folgenden kurz skizzieren, wobei ich mich hier nur auf publizierte Arbeiten beziehen kann.


1. Lesbisches Leben wurde (und wird z.T. bis heute) tabuisiert und verschwiegen. Dies trifft auch auf die NS-Zeit zu. Eine Folge davon ist, dass es zum Einen wenige "offizielle" Quellen und zum Andern fast keine Selbstzeugnisse gibt. Die oral history bot eine – wenn auch geringe – Chance, einen Einblick in diese Lebenswelt zu bekommen. Es war schon Mitte der 80er Jahre, als ich mit meinen Recherchen begann, schwierig, gesprächsbereite Zeitzeuginnen zu finden; dies gilt jetzt und für die Zukunft um so mehr.


2. Mit Ausnahme Österreichs, worauf ich noch eingehen werde, gab es im Deutschen Reich keine strafrechtliche Verfolgung lesbischer Frauen per se. Zwar konnten Fälle, in denen lesbische Handlungen unter Ausnutzung von Abhängigkeits- oder Unterordnungsverhältnissen, an Minderjährigen, gewaltsam oder öffentlich, begangen wurden, nach §§ 174, 176, 178, 183 RStGB bestraft werden, doch in den entsprechenden Statistiken bleibt ein möglicherweise lesbischer Hintergrund unsichtbar. Dies trifft auch auf diejenigen Frauen zu, die aufgrund ihres Lesbischseins (als alleiniger oder einer unter mehreren Faktoren) in die Mühlen des Regimes gerieten und in ein KZ eingewiesen wurden. Dort gab es keine spezielle Häftlingskategorie für sie; vielmehr wurden die Frauen – je nach den Umständen, die zu ihrer Verhaftung führten – den verschiedenen Häftlingskategorien (z.B. "asozial" oder politisch) zugeordnet.


Dadurch, dass lesbische Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit als "sozial ungefährlicher" als homosexuelle Männer bewertet wurden und eine Disziplinierung ohne systematische strafrechtliche Verfolgung möglich schien, gibt es, wie bereits angedeutet, kaum NS-Quellen über sie bzw. über das diesbezügliche Vorgehen des Regimes. Es gibt m.E. keinen größeren Aktenbestand, der (noch) aufgearbeitet werden könnte. Dies schließt nicht aus, dass in anderen (z.B. regionalen) Forschungszusammenhängen der eine oder andere Hinweis auf Lesben bekannt wird.


3. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist diese Basis jedoch zu "dünn". Außerdem tun sich die Universitäten in Deutschland – und dies gilt auch für Österreich – nach wie vor schwer, Homosexualität als "seriöses", wissenschaftliches Thema anzuerkennen. Entsprechende Recherchen sind jedoch zeit- und kostenintensiv, und nicht alle Archive gewähren Privatpersonen unkompliziert Zugang.


Deswegen ist es wenig erstaunlich, dass etwa diejenigen Aufsätze,5 die in den letzten Jahren über lesbisches Verhalten im KZ erschienen sind, sich nicht in erster Linie auf Archivdokumente stützen (können), sondern auf autobiografische Texte von KZ-Überlebenden, in denen lesbisches Verhalten im Lager thematisiert wird. Hierbei handelt es sich um Fremdbilder, d.h. um die meist stark vorurteilsgeprägten Wahrnehmungen von heterosexuellen Frauen. Dies ist – mangels Zeugnissen von lesbischen Inhaftierten – symptomatisch für die Forschungssituation insgesamt.


Zumindest in Bezug auf die Quellen von Verfolgungsbehörden sieht die Situation in Österreich für die Lesbenforschung etwas besser aus.6 Dort existieren aufgrund des § 129 ÖStGB, mit dem auch lesbische Handlungen strafrechtlich verfolgt wurden, entsprechende Polizei- und Justizakten, auch wenn längst nicht alle erhalten sind. Als ich zu Beginn der 90er Jahre von der Existenz dieser Strafakten erfuhr, reizte es mich sehr, diese einzusehen. Dank der Unterstützung der Schwullesbischen Studien Bremen und von SAPPHO (Verein zur Förderung von Frauenforschungsprojekten, Zürich) war es mir 1996 möglich, die Akten des Landgerichts Wien aus den Jahren 1938-45 auszuwerten. Das Ergebnis meiner Recherchen in Österreich ergänzte und bestätigte meine bisherigen Forschungsresultate: Trotz des vorhandenen Instrumentariums (§ 129) fand eine systematische strafrechtliche Verfolgung lesbischer Frauen in Österreich nicht statt. Von den Verurteilungen nach §129 entfielen (max.) 5% auf Frauen.7 Das lag u.a. daran, dass ihre Kontakte eher im häuslichen Bereich stattfanden und dadurch weniger Denunziationen ausgesetzt waren. Hauptgrund für die unterschied­liche Verfolgung von Männern und Frauen nach §129 war aber wohl, dass lesbische Frauen, ähnlich wie im "Altreich", mittels der vielfältigen Kontrollmechanismen im familiären, rechtlichen, politischen und ökonomischen Bereich in Schach gehalten werden konnten.


Zu ähnlichen Resultaten kommt auch Niko Wahl, der sich mit demselben Aktenbestand beschäftigt hat.8 Er verweist besonders darauf, dass die fortgesetzte Stigmatisierung und Kriminalisierung nach 1945 eine positive Selbstwahrnehmung erheblich erschwerte. In diesem gesellschaftlichen Klima sahen sich lesbische Frauen nicht veranlasst, ihr Verfolgungsschicksal öffentlich zu machen. Wahls Fazit: „Die wenigen Lebensläufe, die uns heute in Form von Gerichtsakten, in Archiven und spärlichen anderen – privaten wie öffentlich zugänglichen – Quellen erhalten geblieben sind, zeigen wenig mehr als kurze Schlaglichter auf das Leben dieser Frauen. Genug jedoch, um festzustellen dass das Leben dieser Frauen im Beruf wie auch im Privaten mit ständig drohenden Anzeigen und Repressionen konfrontiert war. Die Geschichte der Verfolgung lesbischer Frauen liegt immer noch weitgehend im dunkeln.“ (S. 186f.) Dies trifft auch auf all jene zu, die – dank unauffälligen Verhaltens –  nie vor Gericht gekommen sind.


Doch auch größtmögliche Vorsicht konnte nicht in jedem Fall verhindern, dass die Verfolgungsbehörden aufmerksam wurden. So standen einige der §129-Verfahren im Zusammenhang mit anderen (vermeintlichen) Delikten, etwa Diebstahl oder Prostitution. Letztere war zwar an sich nicht strafbar, aber Frauen, die sich den rigiden Kontrollen zu entziehen suchten, wurden häufig als so genannte "Geheimprostituierte" verfolgt. Dies verweist auf einen Zusammenhang, mit dem sich Angela Mayer beschäftigt hat. In ihrem Aufsatz "’Schwachsinn höheren Grades’. Zur Verfolgung lesbischer Frauen in Österreich während der NS-Zeit“9 geht sie zu Recht auf die ideologischen Parallelen in der Stigmatisierung von Lesben und "Asozialen" (insbesondere Prostituierten) ein, deren Wurzeln weit vor 1933 liegen. Mayer behauptet, dass (zumindest in Wien) "der Großteil der Frauen, die von den Nazis verfolgt wurden, weil sie lesbisch waren, in die Kategorie 'asozial' kamen – und versehen mit dem 'Schwarzen Winkel' – in Konzentrationslager verschleppt wurden bzw. in sogenannte 'Arbeitserziehungslager für asoziale Frauen' oder in psychiatrische Anstalten, in denen sie u.a. auch zwangssterilisiert wurden oder der Euthanasie zum Opfer fielen" (S. 83). Allerdings bleibt sie den Beweis für die von ihr behauptete systematische Verfolgung schuldig. Zudem dürfen Aussagen über lesbisches Verhalten, etwa in einer Anstalt, nicht gleichgesetzt werden damit, dass die betreffenden Frauen auch deshalb interniert worden seien.10


Ein weiterer Aufsatz aus Österreich liegt von Gudrun Hauer vor, auch wenn sie sich in ihrem Artikel Lesben und Nationalsozialismus11 nicht auf Quellenstudien stützt. Sie warnt zu Recht vor einer Verengung des historischen Blicks auf den Tatbestand der Verfolgung. Dies verzerre vielfach die geschichtliche Realität und berge zudem die Gefahr neuer Mythenbildung: wenn wir uns selbst in erster Linie "als Opfer, anstatt daß wir uns als Täterinnen unserer eigenen Geschichte verstehen" (S. 152). Lesbisches Leben in der NS-Zeit lasse sich also nicht ausschließlich in den Kategorien Strafrecht und KZ untersuchen. Eine solche Perspektive erschwere die Untersuchung dessen, ob ein "normales lesbisches Leben" damals überhaupt möglich gewesen sein könnte. Anhand welcher Quellen eine solche notwendige Untersuchung geleistet werden könnte, lässt Gudrun Hauer allerdings offen.


Als Fazit lässt sich festhalten, dass insbesondere biographische Forschungen differenziertere Einblicke in die jeweiligen Lebensrealitäten und Handlungsspielräume lesbischer Frauen ermöglichen.12 Derartige Recherchen bleiben jedoch fast zwangsläufig auf solche Personen beschränkt, die Nachlässe hinterlassen haben (wozu Frauen aus der sozialen Unterschicht normalerweise nicht gehören). Vielleicht ist es nun auch an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit verstärkt auf die 50er und 60er Jahre zu richten – als einer Epoche, in der nicht zuletzt mit Hilfe von Interviews noch neue Quellen erschlossen werden können.


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1 Schoppmann, Claudia: Spärliche Spuren. Zur Überlieferung der Verfolgung lesbischer Frauen im "Dritten Reich", in: IMH e.V. (Hg.): Der Frankfurter Engel. Mahnmal Homosexuellenverfolgung, Frankfurt a.M.: Eichborn 1997, S. 98-107, S. 98.


2 Schoppmann, Claudia: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler: Centaurus, 1991, sowie 2., überarbeitete Auflage 1997.


3 Eine Auswahl: Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im "Dritten Reich", Berlin: Orlanda 1993, sowie Frankfurt a.M.: Fischer, 1998; dies.: "Das Exil war eine Wiedergeburt für mich". Zur Situation lesbischer Frauen im Exil, in: Sprache – Identität – Kultur: Frauen im Exil, hg. im Auftr. der Gesellschaft für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn unter Mitarbeit von Sonja Hilzinger, München: ed. text + kritik 1999, S. 140-151; dies.: Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938-1945, Berlin: Querverlag 1999.


4 Nicht zuletzt das Buch von Erica Fischer, Aimée und Jaguar. Eine Liebes­geschichte, Berlin 1943 (Köln 1994) und der gleichnamige Film haben dazu bei­getragen, das Thema stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.


5 Schrader, Sabine: Formen der Erinnerung an lesbische Frauen im Nationalsozialismus, in: Centrum Schwule Geschichte (Hg.): "Das sind Volksfeinde!". Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, Köln: Emons 1998, S. 33-43. Meier, Kerstin: "Es war verpönt, aber das gab's". Die Darstellung weiblicher Homosexualität in Autobiographien von weiblichen Überlebenden aus Ravensbrück und Auschwitz, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Nord­deutschland, Bremen: Ed. Temmen 1999, S. 22-33. Vgl. auch: Janz, Ulrike: Literaturliste Lesben im Nationalsozialismus, in: Ihrsinn, eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift, 11 (2000), (22), S. 120-127; Janz, Ulrike: Reflexionen zum "negativen lesbischen Eigentum", in: Ihrsinn, eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift, 5 (1994), (10), S. 70-79.


6 Zur Forschungssituation in Österreich siehe: Schoppmann 1999, Verbotene Verhältnisse, S. 11f.


7 Zu den Verurteilungen siehe Schoppmann 1999, Verbotene Verhältnisse, S. 140.


8 Niko Wahl: ‚Dame wünscht Freundin zwecks Kino und Theater‘. Verfolgung gleichgeschlechtlich liebender Frauen im Wien der Nazizeit, in: Förster, Wolfgang / Natter, Tobias G. / Rieder, Ines (Hg.): Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich, Wien: 2001, S. 181-187.


9 Mayer, Angela H.: ’Schwachsinn höheren Grades’. Zur Verfolgung lesbischer Frauen in Österreich während der NS-Zeit, in: Jellonek, Burkhard / Lautmann, Rüdiger (Hg.): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt, Paderborn u.a.: Schöningh 2002, S. 83-93. (Der Band enthält die Beiträge einer 1996 durchgeführten Tagung.)


10 Es sei anzunehmen, schreibt Mayer, dass eine intensive Aufarbeitung der "Asozialen- und Prostituiertenbekämpfung" im "Dritten Reich" auch zu neuen und genaueren Erkenntnisse bezüglich der Verfolgung von lesbischen Frauen führen würde. Inzwischen liegt eine Dissertation vor, die allerdings keine zusätzlichen Belege für Mayers Thesen liefert: Schikorra, Christa: Kontinuitäten der Ausgrenzung. "Asoziale" Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin: Metropol 2001.


11 Hauer, Gudrun: Lesben und Nationalsozialismus, in: Hauer, Gudrun / Schmutzer, Dieter (Hg.): Das LAMBDA-Lesebuch Journalismus andersrum, Wien: Ed. Regenbogen 1996, S. 149-155 (Nachdruck aus Lambda-Nachrichten 3/1992). Von derselben Autorin erschien auch ein Beitrag in der von Verena Fabris u.a. herausgegebenen „Stadtverführerin“ Wien lesbisch (edition an.schläge, Wien 2001), der mir jedoch leider nicht vorlag.


12 Erwähnen möchte ich hier nur zwei besonders bemerkenswerte Beispiele: Rieder, Ines / Voigt, Diana: Heimliches Begehren. Die Geschichte der Sidonie C., Wien / München: Deuticke, 2000 und Leidinger, Christiane: Johanna Elberskirchen und ihre Rüdersdorfer Zeit 1920 bis 1943, in: Forum Homosexualität und Literatur, 15 (2001), (39), S. 79-106.


© Claudia Schoppmann (Berlin 2002)


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Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Zum aktuellen Forschungsstand über lesbische Frauen im Nationalsozialismus. Berlin 2002 [online]. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org> [cited DATE].

Republish aus: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Hamburg: MännerschwarmSkript 2002, S. 111-116.


Scangenehmigung mit freundlicher Genehmigung des Verlags Männerschwarm (Hamburg).


Link zur Literaturliste: Neue Literatur zum Thema „Lesben im Nationalsozialismus“


 

Lesbengeschichte im Nationalsozialismus – neue Spuren


Die Geschichte lesbischer Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus ist in ihren Grundzügen erforscht.1

Sie unterscheidet sich von der der männlichen Homosexuellen vor allem in strafrechtlicher Hinsicht, denn der §175 StGB bedrohte allein homosexuelle Handlungen unter Männern. Anders war jedoch die Situation in Österreich, wo – auch nach der Angliederung an das Deutsche Reich im Jahre 1938 – der dortige „Unzuchts“-Paragraph 129 Ib weiterbestand, der auch lesbische Handlungen kriminalisierte.2


Aufgrund der untergeordneten Stellung von Frauen im ‚Dritten Reich’ waren lesbische Frauen keiner systematischen Verfolgung ausgesetzt. Wurden sie jedoch aus irgendeinem Grund auffällig und wurde ihre sexuelle Orientierung bekannt, konnte dies Ermittlungen mit unterschiedlichen Konsequenzen nach sich ziehen. Besonders für frauenliebende Jüdinnen, wie z.B. Felice Schragenheim (s.u.), waren diese Folgen meist tödlich.


Besonders Forschungen auf lokaler Ebene können Informationen über bislang unbekannte Einzelschicksale zu Tage bringen. Einen solchen Fund machte kürzlich Christian-Alexander Wäldner. Er erforscht seit Herbst 2008 im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv, Staatsarchiv Wolfenbüttel, die Haft­gründe homosexueller Männer. Ursprünglich mit den Insassen des Ge­fäng­nisses Wolfenbüttel beschäftigt, wandte er sich danach den Zugangs­büchern des Kreis- und Untersuchungsgefängnisses Braunschweig zu. Diese heißen bis Ende März 1941 Kerkerbücher und beinhalten bis zu diesem Stichtag die Haftgründe; in den ab April 1941 vorliegenden Gefangenen­büchern fehlt die Spalte „Haftgrund“. Zudem liegen in Braunschweig – von einer einzigen Ausnahme abgesehen – keine Gefangenenpersonalakten aus der NS-Zeit mehr vor, so dass die Kerkerbücher die einzige Möglichkeit sind, anhand der Haftgründe an Menschen, die aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt wurden, zu erinnern.


Bei seinen Recherchen stieß Christian-Alexander Wäldner im März 2009 auf eine Besonderheit: Am 11. Dezember 1935 wird die 54-jährige Arbeiterin Juliane F. aus Neu-Melverode, heute ein Stadtteil von Braunschweig, durch das Polizeipräsidium in das Gefängnis Braunschweig eingewiesen.3 Ihr wird die Gefangenennummer 2020 zugeteilt. Als Einweisungsgrund wird genannt: „§ 175. Person: weiblich.“ Zu einem bislang nicht bekannten Zeit­punkt muss ein Verfahren am Amtsgericht in Braunschweig stattgefunden haben, denn der Haftgrund wurde nachträglich in § 257 StGB geändert – dies war der sogenannte Begünstigungsparagraf, nach dem Beihilfe zu einer Straf­tat bestraft werden konnte. Als Einweisungsbehörde wird nun das Amtsgericht Braunschweig genannt.4 Nach fast einem halben Jahr, am 5. Mai 1936,  wird Juliane F. durch das Amtsgericht aus der Haft entlassen und kehrt wohl an ihren Arbeitsplatz zurück. Später zieht sie von Braunschweig nach Hardegsen,5 und von dort am 16. November 1944 nach Uslar am Sol­ling in Südniedersachsen. Zwei Jahre später, am 10. Dezember 1946, kehrt sie nach Braunschweig zurück, gibt als Beruf nun allerdings Hausgehilfin an.6 Am 1. Mai 1963 verstirbt sie 82-jährig in Braunschweig.7


Wie ist nun dieser Fund zu bewerten? Welche Hypothesen über ihr Leben vor der Festnahme kann man aufstellen? Hat sie womöglich in einer Frauen­beziehung gelebt und geriet – aus welchen Gründen auch immer – ins Visier der Polizei, die dann gegen sie ermittelte? Kurz vor ihrer Festnahme, im September 1935, war der § 175 verschärft worden, und in dieser Zeit war auch die mögliche Ausdehnung des Paragrafen auf Frauen im Justizapparat diskutiert worden. Die Befürworter einer solchen Kriminalisierung von Les­ben konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Der ursprüngliche Einweisungs­grund „§ 175“ könnte als Synonym für weibliche Homosexualität verstanden werden.


Geboren wurde Juliane F. 1881 in Penzberg in Oberbayern. Welchen Grund sie hatte, ihre Heimat zu verlassen, ist bislang völlig unklar. Wollte sie, die aus einer kleinen evangelischen Gemeinde stammte und sich auch bei ihrer Gefängniseinweisung zu diesem Glauben bekannte, das katholische Milieu verlassen?8 Fühlte sie sich „anders als die andern“ – so der Refrain des bekannten Homosexuellen-Schlagers aus den Zwanzigern – und verließ des­halb Oberbayern? Rein ökonomische Gründe sind für einen solchen weitreichenden Ortswechsel eher unwahrscheinlich. In Neu-Melverode bei Braunschweig wohnte sie in der Leipziger Straße 130. Dort befanden sich in den 1930er Jahren Wohnhäuser von Bediensteten von Industriebetrieben, die auf der anderen Straßenseite lagen. Ob sie hier oder anderswo mit einer Frau zusammenlebte, ist bisher nicht nachzuweisen. Geheiratet hat sie jedenfalls zeitlebens nicht. Denkbar ist aber auch, dass Juliane F. wegen Begünstigung belangt wurde, weil sie etwa homosexuellen Freunden oder Arbeitskollegen ihre Unterkunft überließ und damit – in den Augen des Gesetzgebers – eine Straftat begünstigte.


Bei einem Forschungsbesuch in Magdeburg fand sich kürzlich ein wei­te­rer interessanter Hinweis: Elisabeth B., 1881 in Kayna bei Zeitz geboren, wurde 1937 wegen „widernatürlicher Unzucht“ inhaftiert. Die Recherchen zu diesem Fall stehen noch aus.


Die beiden Beispiele unterstreichen die Bedeutung von Lokalforschung.9 Wer kann Angaben über ähnliche Frauenschicksale machen? Wer hat bei Recherchen ähnliche Funde gemacht?


 


Wir freuen uns auf eine Kontaktaufnahme:


Chrisweetzen (at) web (punkt) de, cschoppmann (at) gmx (punkt) de


Christian-Alexander Wäldner/Claudia Schoppmann (Hannover/Berlin 2009)


 


Zitiervorschlag:
Wäldner, Christian-Alexander/Schoppmann, Claudia: Lesbengeschichte im Nationalsozialismus – neue Spuren. Hannover/Berlin 2009. [online] Availiable from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL: <https://www.lesbengeschichte.org/ns_forschung_d.html> [cited date].


Also available in print version: Wäldner, Christian-Alexander/Schoppmann, Claudia: Lesbengeschichte im Nationalsozialismus – neue Spuren. Scan aus: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Hamburg: Männerschwarm Verlag. Jg. 11, 2009, S. 142-144.





1 Vgl. z.B. Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weib­liche Homosexualität, Pfaffenweiler: Centaurus21997; dieselbe: Zeit der Mas­kie­rung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im 'Dritten Reich, Berlin 1993; Ilse Kokula: Jahres des Glücks, Jahre des Leids, Kiel: Frühlings Erwachen 1990.


2 Siehe Claudia Schoppmann: Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938-1945, Ber­lin: Querverlag 1999.


3 Vgl. Kerkerbuch 1935/36, Gefängnis Braunschweig, Signatur 43 B Neu Nr. 207, Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Wolfenbüttel.


4 Akten über eine mögliche Verurteilung nach § 257 liegen nicht vor, so dass die Fra­ge einer denkbaren Verurteilung hiernach nicht mehr zu klären ist.


5 Einwohnermeldekarten liegen in Hardegsen nicht mehr vor; diese werden nach 20 Jah­ren vernichtet. Auskunft des Einwohnermeldeamtes Hardegsen vom 26. März 2009. Ebenfalls liegen kriegsbedingt keine Einwohnermeldeunterlagen in Braun­schweig vor.


6 Freundliche Übersendung der Meldekarte durch das Bürgerbüro der Stadt Uslar am Harz mittels E-Mail vom 18. März 2009.


7 Mitteilung des Stadtarchives Braunschweig vom 11. März 2009.


8 Bei der Rückmeldung 1946 in Braunschweig bezeichnete sie sich hingegen als „gg“ („gottgläubig“) – nicht ausgeschlossen, dass sie zwischenzeitlich aus der evan­ge­li­schen Kirche ausgetreten war. Das Pfarramt vom Penzberg in Oberbayern konnte einen Kirchenaustritt nicht nachweisen; für Zeiten vor 1920 liegen dort keine Unterlagen vor. E-Mail vom 26. März 2009.


9 Siehe etwa das Kapitel „Die Situation lesbischer Frauen 1933-1945“ in dem jüngst erschienenen Buch von Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann und Gottfried Lorenz: Homosexuellenverfolgung in Hamburg 1919–1969, Hamburg: Lambda 2009, S. 167-186, sowie den Aufsatz von Beate Meyer: Grenzüberschreitungen. Eine Liebe zu Zeiten des Rassenwahns, in: Thevs, Hildegard: Stolpersteine in Hamburg-Hamm. Biographische Spurensuche, Hamburg: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg 2007, S.164-185.