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Margarete Knittel (1906-1991)


Margarete Knittel [rechts] mit Freundinnen um 1930 © Claudia Schoppmann


"Ich war dann sehr vorsichtig mit meinen Reden"


Ob ihr Junge – und ein Junge sollte es doch werden! – nun Friedrich oder Gerhard heißen sollte, war für Margaretes Eltern Anlass zu heftigen Diskussionen. Als im September 1906 ein Mädchen zur Welt kam, „waren sie so enttäuscht, dass sie nicht mal einen Namen für mich hatten“, erzählte mir Margarete Knittel amüsiert, als ich die nunmehr Achtzigjährige 1986 in ihrer Wohnung in Berlin-Schöneberg besuchte.


Ihre Zuneigung zu Frauen müsse wohl „angeboren“ sein, meinte sie, denn sie habe sich schon früh nur für Mädchen interessiert.Ihr Verständnis von Homosexualität als einer „angeborenen Naturveranlagung“, die von dem bekannten Sexualforscher Magnus Hirschfeld propagiert wurde, trug zu einer positiven Identität bei, denn was „angeboren“ war, konnte ja nicht schlecht oder verwerflich sein.


Als Einzelkind wächst Margarete Knittel in Berlin-Friedrichshain auf. Bei ihren Streitigkeiten mit der Mutter, die zu Hause den Ton angibt, hält der Vater stets zu seiner Tochter. Von ihm, der als Tischlermeister in einer Firma arbeitet, hat sie auch die Begeisterung für Theater und Oper. Nach dem Abschluss der Handelsschule findet sie schon mit 17 Jahren ihren ersten Job. Sie arbeitet zunächst als Stenotypistin, dann als Sachbearbeiterin mit wachsender Kompetenz in einer großen Grundstücksverwaltung – ihr Arbeitsplatz für die nächsten zwanzig Jahre.


Schon in der Tanzstunde erfährt sie, dass es auch Liebe unter Frauen gibt und dass Lokale existieren, in denen nur Frauen verkehren. „Damals war ich entsetzt darüber. Dass ich selbst zu diesen Frauen gehörte, wollte ich mir noch nicht eingestehen“, meinte sie rückblickend. „Ich hatte immer nur davon gehört, dass Liebe und Sex unter Frauen etwas Verwerfliches sei.“


Mit neunzehn Jahren trifft sie bei der Geburtstagsfeier einer Freundin ihre „stille Liebe“ aus der Schulzeit wieder, für die sie schon lange aus der Ferne geschwärmt hat. „Lucy und ich verliebten uns ineinander; sie war meine erste große Liebe. Sie hatte schon Erfahrungen in der lesbischen Liebe und verführte mich. Erst dann konnte ich meine Veranlagung akzeptieren und dass wir nun mal anders als die andern sind!“ Doch nach zwei Jahren folgt die erste große Enttäuschung: Lucy heiratet.


Über ihre zweite Freundin Else lernt sie „Die Freundin“, die populärste Zeitschrift für lesbische Frauen in der Weimarer Republik, sowie andere Blätter wie „Garconne“ oder „Die Freundschaft“ kennen. Schließlich überwindet sie ihre „Schwellenangst“ und wagt sich zum ersten Mal in eine der Bars mit lesbischem Publikum, in die Zauberflöte, die sich direkt neben ihrem Büro in der Kommandantenstraße am Spittelmarkt befindet und die von Kati Reinhard geführt wird.


„Es war allerdings sehr schwer, auch meine Freundin dazu zu bewegen, einmal mit mir in die Zauberflöte zu gehen, denn sie hatte große Angst, dass ihre Schwester beziehungsweise ihre Mutter das erfahren könnten. Prompt trafen wir dort zwei Hausbewohnerinnen von Else, die ebenso bestürzt waren, Bekannte zu treffen. Ich sagte zu Else, 'Die haben genauso Angst wie du, die wollen auch nicht, dass das publik wird', und ging zu ihnen hin. Eine der beiden Frauen lebte in Scheidung und befürchtete, schuldig geschieden zu werden, wenn ihr Mann den wahren Scheidungsgrund erfahren würde. Vor uns brauchten sie da natürlich keine Angst zu haben.“


In der Zauberflöte und in anderen Lokalen – etwa der Geisha-Bar in der Augsburger Straße, dem Dorian Gray in der Bülowstraße, der Monokelbar oder dem von den Künstlerinnen bevorzugten Club Mali und Igel – erlebt Margarete Knittel die homosexuelle Subkultur und ihre Codes, lernt Tänze „nur für die Muttis und solche nur für die Bubis“ kennen und trifft dort allmählich immer mehr Bekannte. „Goldene“ zwanziger Jahre sind es in der Erinnerung für sie, trotz der galoppierenden Inflation. Margarete Knittel, die Kostüme und kurzgeschnittenes Haar trägt, geht gern tanzen und kommt auch mit lesbischen Schriftstellerinnen wie der ebenfalls in „Zeit der Maskierung“ vorgestellten Ruth Margarete Roellig und Mitarbeiterinnen der „Freundin“ zusammen.


Mit zweiundzwanzig Jahren zieht sie von zu Hause aus. „Du immer mit deinen Frauen“, stichelt die Mutter, die wohl etwas von der Veranlagung ihrer Tochter ahnt. Sie solle sich lieber einen Mann suchen und heiraten. Vergebens. Manche von Margaretes Freundinnen dagegen - „die waren alle bisexuell, da konnte man nie sicher sein“ – gingen später eine Ehe ein. Verständnislosigkeit oder gar Angriffe der Familie machten (und machen auch heute noch) nicht wenigen Frauen das Leben schwer. Auch Käthe, die sie 1930 über ein Inserat in der „Freundin“ kennen lernt, ihre Lebensgefährtin für die nächsten acht Jahre, hat leidvolle Erfahrungen gemacht:


„Käthe war vorher mit einer Beamtentochter befreundet gewesen, und deren Eltern sind schließlich dahinter gekommen. Der Vater war außer sich, er wollte sie in eine Anstalt stecken. Es hat einen furchtbaren Krach gegeben, aber die beiden haben gesagt, sie bleiben zusammen, lieber würden sie sich das Leben nehmen. Als sie einmal über die Oberbaumbrücke nach Hause gingen, stand plötzlich der Vater hinter ihnen und sagte, 'Ihr wolltet doch ins Wasser gehen, nun springt doch!'“


Nach 1933 beginnt der Rückzug ins Privatleben. Die meisten der einschlägigen Lokale werden geschlossen, und Margarete Knittels Freundeskreis trifft sich nun häufig in den Privatwohnungen:


„Ich hatte mir vis-à-vis vom Büro, in einer Seitenstraße am Spittelmarkt, eine Wohnung ausbauen lassen und bin erst 1938, nach dem Tod meiner Mutter, wieder mit meinem Vater zusammengezogen. Wir haben uns immer blendend verstanden, er war eine Seele von Mensch. Er hatte seine Freundin, ich hatte meine Freundinnen. Mein Vater hat mich vollkommen akzeptiert, obwohl wir nie darüber gesprochen haben. Ich hatte immer schöne große Zimmer, und dort trafen wir uns dann. Damals gab's ja nur Grammophon und Radio, aber wir hatten Tanzplatten, und es wurde getanzt. Jeder brachte was zu trinken mit, manchmal auch was zu essen, es war ja Krieg, es gab nicht so viel.


Während des Krieges sind wir auch noch in Lokalen gewesen, aber ich weiß nicht mehr wo. Unter anderem waren wir mal in einer Tanzschule in Mahlsdorf. Tanzunterricht war ja gestattet. Also hatten wir eine halbe Stunde Unterricht, und nachher konnten wir so tanzen. Aber das ist auch nur einige Male gewesen, dann hat die Inhaberin wohl doch Angst bekommen.


Trotzdem hat sich während des Krieges ein Club gebildet. Ich hatte eine Bekannte, die in dem Nachtlokal St. Pauli als Kapellensängerin auftrat und mich auch mal dorthin einlud. Damals war das Lied „Lili Marleen“ populär, das musste sie sehr oft dort singen. Ein junges Mädchen kam zu uns an den Tisch, und ich sagte, 'Es ist ja nun sehr schwer, sich irgendwo zu treffen.' Sie sagte, 'Wir haben einen Club gegründet; wir nennen uns Charlottenburger Ruderclub, und dort treffen wir uns.' Es wurden also Vereine mit Tarnnamen gegründet.“


Schon vor dem Ersten Weltkrieg war dies eine erprobte Strategie gewesen, um legale Treffpunkte zu schaffen: 1905 wurde beispielsweise der „Kegelverein“ Die goldene Kugel ins Leben gerufen und 1916 der „Sparverein“ Kleeblatt.


Auch in der NS-Zeit habe sie wegen ihrer „Veranlagung keinerlei Schwierigkeiten“ gehabt, betonte Margarete Knittel im Gespräch mit mir öfter; sie sei niemals diskriminiert worden. Dabei hätten alle – sei es am Arbeitsplatz, sei es im Haus – wohl gewusst, dass sie mit Frauen zusammenlebe. „Ich habe allerdings nie direkt darüber gesprochen und mich nie zu erkennen gegeben“, räumt sie andererseits ein. Solche Widersprüche sind keine Seltenheit in ihren Erzählungen. Kompromittierenden Situationen geht sie „instinktiv“ aus dem Weg, zudem verändert sie auch ihr Äußeres. In der Öffentlichkeit legt sie auf „Anständigkeit“ und Unauffälligkeit großen Wert. „Dass wir uns, wie das heute oft der Fall ist, vor allen Leuten abgeküsst hätten, das haben wir natürlich nicht gemacht. Ich hab meine Haare wachsen lassen und meist Kleider getragen. So streng wie sie heute gekleidet gehen, ist ja damals keiner gegangen.“ Dass sie seit 1938 mit ihrem Vater bis zu dessen Tod 1959 zusammenwohnte, wird auch zu ihrem Schutz beigetragen haben. Ein einziges Mal nur sei sie behelligt worden:


„Einmal hat man mich und meine Freundin im Urlaub wegen 'unmoralischem Verhalten' rausgeworfen. Die Wirtin hatte ihr Schlafzimmer neben unserem; entweder hat sie ein Loch in die Wand gebohrt, oder ich weiß nicht! Es war in Hinterzarten im Schwarzwald. Wir kamen von einem Spaziergang ins Hotel zurück und fanden einen Brief vor, 'Bitte verlassen Sie morgen unser Haus.' Wir haben gefragt, 'Was haben Sie gegen uns?' – 'Sie haben sich unmoralisch verhalten.' Auf meine Frage, woher sie das denn wisse, meinte sie, das Mädchen hätte durchs Schlüsselloch geguckt, aber das war so ein großes Zimmer, da hätte sie um die Ecke gucken müssen. Ich sagte, 'Wir gehen, aber wir haben noch drei Tage hier gut und ich verlange von Ihnen, dass Sie mir diese drei Tage erstatten.' – 'Sie können wohnen bleiben', meinte die Wirtin plötzlich. Doch dann wollte ich nicht mehr.“


Manche von Margarete Knittels Freundinnen und Freunden gehen aus Angst vor Verfolgung Scheinehen ein, eine Reaktion auf die massive Ehe- und Heiratspropaganda der Nazis. Damit versuchten die Machthaber unter anderem, die Zahl erwünschter Geburten in die Höhe zu treiben, eine wichtige Voraussetzung für ihre kriegerische Eroberungspolitik. Doch auch im repressiven Nachkriegsklima, bei fortdauernder Kriminalisierung homosexueller Männer, waren nicht wenige zum Doppelleben gezwungen.


„Meine zweite Freundin, Else, hat 1937 einen homosexuellen Studienrat geheiratet, Fritz. Der war einmal mit einem Freund in einem Lokal, allerdings nicht dort, wo getanzt wurde, sondern nur vorn an der Bar. Es gab eine Razzia. Er konnte sich rausreden, sie seien zufällig in dieses Lokal reingekommen. Die Männer, die hinten im Lokal waren, sind alle mitgenommen worden, aber die beiden konnten nach Hause gehen. In seiner Schule hieß es dann, er solle heiraten, er war inzwischen auch schon vierzig Jahre alt. Er lernte also meine Freundin kennen; damals waren wir allerdings schon nicht mehr liiert. Else wollte nicht, dass ihre Familie es von ihr erfährt, und dann haben die beiden eben geheiratet. Sie hatte eine Freundin, und er hatte Freunde.


Einen Freund von dem Fritz, dessen Eltern zwei Konditoreien hatten, haben sie aus der Backstube verhaftet, nachher aber wieder freigelassen. Er hat dann geheiratet, auch eine Scheinehe. Sie haben sich nach dem Krieg wieder scheiden lassen.


Meine langjährige Freundin Friedel hatte einen Bekannten; ich hab ihn nach der Nazizeit auch kennen gelernt. Nach dem Krieg ist er angezeigt worden, hat zwei Jahre Gefängnis bekommen, der Paragraph 175 existierte ja noch. Meine Freundin ist noch als Zeugin aufgetreten, als seine angebliche Verlobte. Als er rauskam, wollte er Friedel heiraten. Friedel wollte auch. Ich habe gesagt, 'Du kannst ihn heiraten, aber zwischen uns ist es dann aus. Ich will keine verheiratete Freundin, ganz egal, ob es 'ne Scheinehe ist oder nicht.' Das hat sie dann auch nicht gemacht.“


Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Margarete Knittel bald deutlich, dass Hitler auf einen Krieg zusteuert. Mit ihren Bekannten und Freundinnen – bis auf eine Ärztin meist Sekretärinnen, Prokuristinnen und leitende Angestellte – unterhält sie sich auch über Politik.


„Für uns stand von Anfang an fest, dass es Krieg geben würde. Es begann in dem Moment, wo Hitler die Rüstung forcierte. Er wäre nie an die Macht gekommen, wenn er nicht so von den Rüstungsfirmen finanziert worden wäre. Man brauchte ja bloß ein bisschen nachzudenken, wie es im ersten Weltkrieg war. 'Wir siegen uns wieder tot, genauso wie 1914/18', sagte eine Bekannte von mir. 'Hitler hat die Arbeitslosigkeit beseitigt', hieß es immer, aber das hätten die anderen Parteien auch machen können. Und die Autobahnen? Das waren doch Heerstraßen, damit die Soldaten marschieren konnten! Ich weiß nicht, die Leute, mit denen ich zusammengekommen bin, haben da ziemlich klar gesehen. Andererseits – diese Propaganda war so geschickt gemacht, die Leute sind richtig damit eingewickelt worden.“


Dieser „Hellsichtigkeit“ und der ablehnenden Haltung zum Nationalsozialismus folgen allerdings keine persönlichen oder politischen Konsequenzen. Sie habe immer „alles auf sich zukommen lassen“. Als Nichtjüdin entgeht Margarete Knittel rassistischer Verfolgung, und obwohl sie in der Weimarer Republik mit der SPD sympathisierte, hatte sie sich politisch nie exponiert. Wie für die meisten lesbischen Frauen ihrer Generation sind auch ihre Chancen, einer Konfrontation mit dem Regime zu entgehen, recht groß.


Nur manchmal sei sie „mit den Nazis zusammengerasselt“, zum Beispiel, als sie der mit einem Juden verheirateten Freundin Lucy eine Wohnung vermietet habe oder bei der verordneten Demonstration am 1. Mai nicht mitmarschiert sei. Margarete Knittel schildert, wie die Nazis bei der letzten Reichstagswahl am 12. November 1933, von der die Arbeiter- und bürgerlichen Parteien bereits ausgeschlossen waren, Druck auf die Bevölkerung ausübten, um die Wahlergebnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Trotz aller Manipulationen blieben jedoch über zwei Millionen der „Wahl“ fern, und mehr als drei Millionen Stimmen wurden gegen die NSDAP abgegeben.


„Ich wollte gar nicht hingehen zur Wahl; plötzlich steht ein Polizist vor der Tür, 'Sie waren noch nicht wählen, kommen Sie mit!' Was sollte ich machen? Ich kriegte dort auch noch eine Nummer; ich hab mich aus lauter Angst gar nicht getraut, was andres zu wählen. Ein Kollege meiner damaligen Freundin sagte, dass verschiedene verhaftet worden sind, die anders gewählt haben. Irgendwie hatten sie in ihren Wahlurnen besondere Vorrichtungen; Leute, die verdächtig waren, wurden gekennzeichnet. Später kriegte ich die Aufforderung, an einem Luftschutzkursus teilzunehmen. Ich bin nicht hingegangen und wurde auch wieder mit der Polizei geholt. Aber sonst ist mir nichts passiert. Wir wurden in Ruhe gelassen. Ich war dann aber auch sehr vorsichtig mit meinen Reden.“


Doch so vorsichtig man sich auch verhielt, gegen Denunziationen war man nie gefeit. Ein unbedachtes, ein falsches Wort, und sei es im Freundeskreis, konnte eine Anzeige zur Folge und unabsehbare Konsequenzen für Leib und Leben haben. Ein Klima der Angst – der Angst vor realen oder möglichen Gefahren – vergiftete die Atmosphäre.


„Es war auf einem Geburtstag von meiner Freundin Else; Amerika und Russland waren schon im Krieg mit Deutschland. Ein Schwager von ihr war da, ein Offizier, und irgend so eine Frau von der NS-Frauenschaft. Wir hatten ein bisschen getrunken und ich sagte, 'Der Krieg endet für uns mit einer hundertprozentigen militärischen Niederlage.' Ein Stich ins Wespennest hätte nicht schlimmer sein können! Gegen wen kämpften wir denn? Wir kämpften doch gegen die mächtigsten Völker der Erde, gegen Russland und Amerika, da konnten wir doch gar nicht gewinnen. Die Frauenschaftlerin gleich: 'Ich will das nicht gehört haben!' Die beiden Männer raus aus dem Zimmer, und ich dachte, um Gottes willen, was haste da gemacht, aber es hat mich keiner angezeigt.“


Während Margarete Knittel sich von der NSDAP fernhält, wenngleich mit einer überraschenden Begründung, treten zwei Freundinnen aus unterschiedlichen Motiven der Partei bei. Eine dritte Freundin, die in einer Glühlampenfabrik arbeitet, wird aufgefordert, in die NSDAP einzutreten; als sie sich weigert, wird sie entlassen.


„Ich war in keiner Parteiorganisation drin. Schließlich hab ich ja jüdisches Kapital verwaltet, da war es doch selbstverständlich, dass ich mich nicht zu den Nazis hingezogen fühlte. Das einzige war, dass ich in den zwanziger Jahren in den Verband für weibliche Angestellte reingehen musste, und das wurde dann ja von den Nazis in die Deutsche Arbeitsfront übernommen. Ich konnte gar nicht verstehen, dass Menschen sich so beeinflussen lassen! Ich bin einmal um 1930 mit der Straßenbahn am Sportpalast vorbeigefahren, Hitler hatte gerade eine seiner ersten Reden dort gehalten, und lauter Frauen stiegen zu. Sie waren wie berauscht! Ich war entsetzt, wie die von Hitler schwärmten. Ich hatte das Gefühl, das ist eine Massensuggestion.


Eine Freundin, eine Geschäftsfrau, war KPD-Mitglied gewesen. Sie hatte sogar in ihrem Geschäft ein Waffenlager. Sie ist dann, weil sie fürchtete, verhaftet zu werden, in die NSDAP reingegangen. Während des Krieges ist sie einem Bombenangriff zum Opfer gefallen. Eine andere ist in die NSDAP eingetreten, weil sie sich zuerst was davon versprochen hatte. Da war ein jüdisches Geschäft, sozusagen ihre Konkurrenz, und sie sagte sich wohl, wenn das geschlossen würde, umso mehr könne sie dann verdienen.“


Obwohl die Firma, in der Margarete Knittel seit vielen Jahren arbeitet, Schweizer Juden gehört, also Staatsangehörigen eines neutralen Landes, wird sie „arisiert“ und schließlich beschlagnahmt. Margarete Knittel verliert ihren Job.


„Der jüdische Aufsichtsrat, ein Rechtsanwalt, musste dann ausscheiden, und unser Wirtschaftsprüfer wurde als Aufsichtsrat gewählt. Der Direktor musste auch ausscheiden; der damalige Buchhalter kriegte den Posten. Zwei Arier haben es also übernommen. Die Schweizer Eigentümer blieben noch. Der Wirtschaftsprüfer ging in die Partei, und mein Vorgesetzter ging in das NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps), nur weil sie die Firma halten wollten – es waren beides keine Nazis. 1943 wurde das mit einem Mal nicht mehr anerkannt; die Aktiengesellschaft, also diese Geschäftshäuser, wurden zum 1. Januar 1944 beschlagnahmt. Die Privatgrundstücke mussten noch weiter verwaltet werden, aber dann wurden die meisten auch ausgebombt.


Als ich im November 1943 meine Stellung verlor und meine Wohnung ausgebombt wurde, sagte mein früherer Vorgesetzter noch, 'Wollen Sie die ganzen Bombennächte hier erleben?' Ich könne doch mit meinem Vater zu meinen Verwandten nach Ostpreußen gehen. Was sollte ich denn da, da kamen die Russen ja zuerst hin, und auf dem Lande hätte ich auch keine Stellung bekommen. Ich hab das durchgestanden, die Bombennächte. Nachts im Luftschutzkeller, und am Tage, als ich die Stellung noch hatte, ins Büro, zu den Häusern laufen; es fuhr ja keine Bahn mehr. Am Tage manchmal auch noch im Luftschutzkeller; ich hab furchtbare Angriffe miterlebt und bin doch mit dem Leben davongekommen.


Nach meiner Entlassung ließ ich mich krankschreiben, weil ich mir sagte, ich will nicht den Krieg verlängern helfen, sie hätten mich ja doch nur in irgendeine Rüstungsfirma gesteckt. Dann war's mir aber doch zu langweilig, und ich hab eine Stelle bei einem Steuerberater angenommen.“


In der Endphase des Krieges fährt Margarete Knittel einmal nach Posen, um ihre Freundin zu besuchen. Sie ist entsetzt darüber, wie die polnische Bevölkerung von den Deutschen behandelt wird. Bei diesem Besuch wird ihr die Tragweite der Kriegsverbrechen besonders deutlich.


„Mit meiner letzten Freundin während der Kriegszeit war ich nur anderthalb Jahre befreundet. Sie war beim Arbeitsamt beschäftigt und kam nur am Wochenende nach Berlin. Während des Krieges war ich drei Tage bei ihr in Posen gewesen; wie die Polen dort behandelt wurden, das war eine Katastrophe. Dass überhaupt ein Deutscher lebend da rausgekommen ist! Das erste, was mir dort passierte, war, dass ich mit der Straßenbahn fuhr und die Schaffnerin mich anfuhr, 'Sie haben in den hinteren Wagen einzusteigen.' Als ich das meiner Freundin erzählte, sagte sie, 'Ja, du musst 'n Hakenkreuz tragen.' Die Polen mussten in der Straßenbahn hinten einsteigen, sie durften nicht im ersten Wagen fahren. Jede Nacht waren die Schießereien; ich habe gedacht, wenn sich das einmal rächt ... Während des Krieges brachten sie mal in der Wochenschau die Bombardierung von Rotterdam, diese brennenden Häuser. Ich war so erschüttert und habe damals schon gesagt – es war ja nun Anfang des Krieges –, 'So wie diese Häuser brennen, werden unsere Häuser auch einmal brennen', und so ist es dann auch gewesen.“


Nach dem Krieg arbeitet Margarete Knittel bis zu ihrer Pensionierung als selbständige Grundstücksverwalterin. Von 1946 bis zu deren Tod 1977 lebt sie mit Friedel zusammen, die ihr Geld als Substitutsleiterin im Kaufhaus KaDeWe verdient. Margarete Knittel nimmt regen Anteil an der wiedererwachenden lesbischen Subkultur, die Kati Reinhard, Lotte Hahm und andere seit den zwanziger Jahren aktive Frauen neu aufbauen.


In der Weimarer Republik sei das Leben jedoch freier gewesen als heute, meinte die Achtzigjährige während einer Veranstaltung, bei der sie jungen Frauen aus ihrem Leben erzählte. "Wir wurden zwar manchmal belächelt, aber immer akzeptiert." Wird hier, wie nicht selten in Lebensrückblicken, die Jugendzeit verklärt? Und welchen Preis hatte die vermeintliche Akzeptanz? Natürlich habe sie beispielsweise nie ein Verhältnis mit einer Kollegin am Arbeitsplatz gehabt: "Wer sich in eine Kollegin verliebt und deshalb entlassen wird, ist eben selbst schuld." Selbstzensur, die Vermeidung von Konflikten und das Ausblenden von Diskriminierung verhalfen Margarete Knittel zu einer positiven Identität und waren für sie – und wohl auch für viele andere um die Jahrhundertwende geborene Frauen – in einer repressiven Umwelt überlebenswichtig.



© Claudia Schoppmann (Berlin 2005)



Text und Foto Margarete Knittel [rechts] mit Freundinnen um 1930, aus Claudia Schoppmann: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im "Dritten Reich". Berlin: Orlanda Frauenverlag 1993
Online-Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Zitiervorschlag:
Schoppmann, Claudia: Margarete Knittel (1906-1991) [online]. Berlin 1993. Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL <https://www.lesbengeschichte.org/bio_knittel_d.html> [cited DATE]. Also available in print version: Schoppmann, Claudia. Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im "Dritten Reich". Berlin: Orlanda Frauenverlag 1993.